Arbeiten trotz persönlicher Krise?

  • Liebes Forum,

    ich weiß, dass es rund um das Thema psychische Belastung schon viele Beiträge gibt, aber plötzlich stehe ich mitten drin, kann damit noch gar nicht umgehen und würde gerne um ein paar Erfahrungen bitten. Letzte Woche hat es mich komplett zusammengebrezelt, die ganze Coronasituation (Familie wohnt so weit weg und in jedem Haushalt gehört mindestens eine Person zur Hochrisikogruppe) schlaucht und nun sind noch unerwartet einige Veränderungen dazu gekommen, mit denen ich nicht gerechnet habe. Ich verstehe ja selber nicht, warum ich so überreagiere, aber ich fühle mich so überfordert. Kann überhaupt nicht mehr schlafen kann und hab manchmal richtige Angst-Anfälle (aber nur wenn ich allein bin). Beim Hausarzt war ich schon, der wollte mich eigentlich krank schreiben, aber das macht mir noch mehr Angst als weiterzumachen. Ich wohne allein und kaum etwas von den Sachen, die man sonst zur Ablenkung macht, gehen ja im Moment. Hat jemand hier in einer vergleichbaren Situation weitergearbeitet? (Und zwar meine ich gar nicht so sehr aus Pflichtgefühl der Schule gegenüber sondern ehrlich gesagt aus rein egoistischen Gründen. Dann hätte ich ja wenigstens eine Aufgabe.) Ich müsste nur 4 Stunden am Tag in die Schule, das ist ja viel weniger als normal. Hat bei euch die Energie gereicht? Hat es vielleicht sogar geholfen? Oder mache ich mir was vor? Ich weiß, dass mir keiner die Entscheidung abnehmen kann, aber vielleicht hilft es mir dabei, mich ein bisschen zu sortieren, bevor ich nochmal zum Arzt gehe und wir entscheiden, wie es weiter geht. Danke fürs Lesen! (Wenn das alles eher in den offtopic-Bereich gehört hätte, tut mir leid, dann bitte verschieben...)

    Liebe Grüße

    Annanni

  • Kenne ich grundsätzlich, allerdings aus der Zeit, als ich noch nicht als Lehrer gearbeitet habe. Für mich war es genau richtig, viel zu arbeiten und dadurch unter Leuten zu sein. Bei der Grundschule ist eine Besonderheit, dass die Präsenzzeit in der Schule durch Lärm und 30er-Klassen sehr belastend sein kann, aber das ist jetzt ja eigentlich gerade nicht der Fall.


    Gerade, wenn du eigentlich nicht zu den von dir beschriebenen Reaktionen neigst und wenn es eigentlich Überreaktionen sind (schreibst du ja selbst), könnte es auch eine gute Idee sein, mal ein Vierteljahr lang ein Medikament zu nehmen. Ich bin da grundsätzlich kein Fan, aber alles hat auch seine Anwendungsbereiche. Ein ärztlicher Psychotherapeut wäre da der beste Ansprechpartner, wenn dein Hausarzt nicht auf dem neuesten Stand ist (manche verschreiben heute dasselbe wie in den Achtzigern, das muss nicht sein).

  • Interessanterweise hat mich das Arbeiten bei persönlich belastenden Situationen, die ich verarbeiten musste, meistens abgelenkt. Es konnte sein, dass ich morgens total fertig in die Schule gegangen bin und als ich die Kinder gesehen habe, alles vergessen hatte.

    Aber ich denke, das ist Typsache. Ich bin jemand, der stark auf die Sache, die er gerade macht, fokussiert ist und Hintergrundssachen eher ausblendet.

    Für mich wäre eher die Lösung zu arbeiten um wieder andere Gedankenimpulse zu bekommen, sonst dreht sich doch viel im Kreis. Das ist irgendwie so, dass sozusagen kurzfristig und ganz allmählich "Gras drüberwächst", weil der Kopf eben nicht nur mit der im Augenblick belastenden Situation beschäftigt ist.

  • Danke für die Rückmeldungen. Ich möchte es ja eigentlich auch mit der Arbeit versuchen. Leider hat meine Schulleitung meinen ersten Zusammenbruch mitbekommen und ein paar Tage später recht barsch eingefordert, dass sie wissen möchte, ob sie mit mir rechnen kann, die Planung wäre schon schwer genug. Das hat mich zusätzlich verunsichert, weil ich mich im Moment wirklich nicht einschätzen kann... Danke für die Zeit, die Ihr euch genommen habt.

  • DAs ist ja schön, dass deine Schulleitung das so sieht, aber gleichermaßen, ziemlich verantwortungslos, dich so unter Druck zu setzen.


    Guck nur nach dir und lass die Schulleitung ihre Aufgaben machen, ohne das du ein schlechtes Gewissen hast, denn wenn jemand ausfällt (was ja aktuell leicht passieren kann), dann muss sie eh neu planen. Ihre Aufgabe, nicht dein Problem.

  • Das kann man nicht mit ja oder nein beantworten. Eine Grenze wäre für mich, wenn körperliche Symptome hinzukommen. Mit zitternden Händen oder zugeschnürtem Hals würde ich mich nicht in die Schule bewegen. Dann brauchst du erstmal Hilfe.


    Wenn das alles nicht so ist und dir die Zeit mit den Kindern (die sich ja nicht so gestaltet wie normalerweise, sondern da muss man ständig an Vorkehrungen denken und an Regeln erinnern) gut tut, dann versuche es - in dem Bewusstsein, vermehrt auf dich zu achten.

  • Der Hals schnürt sich mir wirklich irgendwie zu, allerdings eigentlich nur dann, wenn keiner da ist und vor allem nachts. Vielen Dank für eure Gedanken. Letztlich kann ich wohl wirklich erst morgen früh sagen, ob ich mich in der Verfassung fühle. Es hat mir aber schon ein wenig geholfen, eure Meinungen dazu zu lesen, schon weil man sich nicht ganz so allein fühlt mit seinen ganzen Grübeleien. Danke!

  • Der Hals schnürt sich mir wirklich irgendwie zu, allerdings eigentlich nur dann, wenn keiner da ist und vor allem nachts. Vielen Dank für eure Gedanken. Letztlich kann ich wohl wirklich erst morgen früh sagen, ob ich mich in der Verfassung fühle. Es hat mir aber schon ein wenig geholfen, eure Meinungen dazu zu lesen, schon weil man sich nicht ganz so allein fühlt mit seinen ganzen Grübeleien. Danke!

    Wenn die Arbeit dir nicht nur gut tut, sondern du diese auch weiterhin gut leisten kannst, dann versuch es. Alles, was deine Ressourcen füllt und dich stärkt, ohne dass Mitmenschen (und in dem Fall anvertraute Kinder) den Preis dafür zahlen müssen ist gut und sinnvoll. Gleichzeitig solltest du für dich selbst prüfen, ob unter Umständen ergänzende ärztliche Beratung und Gespräche sinnvoll sein könnten bzw. ob es sich um ein grundsätzliches Problem handelt, dass durch Corona nur stärker hervorgekitzelt wurde oder dieser Corona-Situation geschuldet ist. Schau in jedem Fall, was dir jenseits der Arbeit gut tut und dich stärkt. Geh vielleicht einmal die Woche mit einer Freundin oder Nachbarin spazieren (das geht mit ausreichend Abstand auch mit Angehörigen von Risikogruppen), nimm dir Zeit für dich selbst um gesund in dich hineinzuhören, aber unterbrich lange Grübeleien die dich nicht weiterbringen und die ungesund sind beispielsweise indem du einen lieben Menschen anrufst (Videotelefonie hebt die Stimmung auch schon, wenn man sich schon nicht persönlich sehen kann). Was hast du denn sonst so für Hobbies, die sich auch corona-unabhängig ausüben lassen? Sport? Malen? Lesen? Tanzen?... Viele Sachen kann man auch weiterhin machen, wenn man sie ein wenig anpasst und braucht solche Ressourcen auch, um gesund bleiben zu können.

    Der wichtigste Hinweis: Verdräng´die Gefühle die gerade hochkommen nicht, sondern nimm dich ernst, nimm ernst was du gerade fühlst und finde heraus, was du gerade wirklich brauchst, um dich eben nicht nur abzulenken von dir selbst und deinen Emotionen, sondern dir selbst gut zu tun und gesund für dich selbst Sorge zu tragen.

    "Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule." Domenico Squillace

    Einmal editiert, zuletzt von CDL ()

  • Ja, das versuche ich. Ich gehe jeden Tag mit einer Freundin spazieren, skype mit der Familie und habe eigentlich auch immer etwas zu tun. Trotzdem stehe ich neben mir, habe irgendwie eine Grundsicherheit verloren, von der mir gar nicht klar war, wie sehr ich sie brauche. (Ich muss aus meinem gewohnten schulischen Umfeld raus, obwohl ich mitten im Turnus bin und gedacht hatte, wenigstens an meiner Schule gut aufgehoben zu sein.) Ohne Corona hätte ich mich vermutlich furchtbar geärgert, mich aber irgendwie arrangiert und neue Pläne geschmiedet. Aber durch die momentane Situation bin ich so dünnhäutig geworden, dass mir einfach der Boden unter den Füßen fehlt. Ärztliche Hilfe habe ich mir letzte Woche schon geholt, aber da dachte ich noch, es ist eine kurze, heftige Krise und hab das auch so dargestellt. Habe kommende Woche zum Glück noch ein Gespräch. Jetzt gehe ich erstmal eine Runde raus. Danke für eure Zeit!

  • Was hilft, sind Tagesstrukturen und viele Waldläufe - auch auf Distanz mit Bekannten. Laufen, wandern, gehen, möglichst im Grünen (am besten im Wald). Und wenn man sich an den Haaren hinzieht... egal, wie schlecht es einem geht. Rausgehen hilft.

    Die Krankschreibung ist schon nötig, wenn es einem so schlecht geht, da dieser Zustand sich ja auf die Arbwitsfähigkeit negativ auswirkt. Wichtig ist dann aber, so schlecht es auch geht, aktiv zu bleiben und über die Aktivität langsam zur Erholung zurückzufinden. Man könnte auch zusätzlich psychosomatische Beratung in Anspruch nehmen.

    Jeder kann doch mal krank werden - auch das hilft, dass man das annimmt. Eltern, Schüler, Lehrer ...

    Vielleicht hilft ja auch das Notprogramm, wieder zu gesunden.

    Was man nicht tun sollte: das Ganze verdrängen.


    Die Lauftipps kommen aus der eigenen Erfahrung, es hat eine ungeheure stressreduzierende Wirkung. Stichwort „mindfulrunning“. Und wenn es 2 Stunden Spaziergang sind. Was ich erstaunlich finde, ist, wie sich alles verändert, wenn man es durchzieht...


    Ich habe das hier gerade zusammengestellt, was mir geholfen hat und hilft. Die Achtsamkeitskurse MBSR finde ich auch gut - aus meiner persönlichen Sicht würde ich die Entspannung erst übers Körperliche und dann übers Meditieren suchen.


    Eben im Wald beim morgendlichen Lauf saß eine junge Frau auf einer Bank, in Buddahhaltung, und hat meditiert. Das war ein so schönes und kraftvolles Bild. Zur Zeit ist die Natur draußen sehr schön - Du hast dann Vogelkonzert und Nadelduft als Begleiter.


    Was mir noch zu den Tipps einfällt: den Medienkonsum einschränken - einmal Nachrichten pro Tag anschauen, das reicht.


    Ich denke, jeder Arbeitnehmer (oder zumindest einige) kennt Phasen der Erschöpfung, sodass er sogar krank wird. Vielleicht helfen ja schon 1, 2 Wochen zur Besserung, wie gesagt. Da würde ich im Zweifel das Urteil dem Arzt überlassen. Der hat einen guten Außenblick auf den Menschen, der zu ihm kommt.


    Gegen Sachen wie Liebeskummer usw. ist kein Kraut gewachsen, da muss man sich durchheulen. Aber da hilft die Methode auch.


    Dein Artikel hat mich berührt, daher habe ich jetzt spontan alles dazu geschrieben, was mir einfiel.


    Ich kann auch die Lehrercoachinggruppem nachh dem Freiburger Modell empfehlen.


    So - raus mit Dir - Social distancing einhalten und sporteln.


    Liebe Grüße,

  • Ja, verdrängen ist nicht gut, das kann dann irgendwann zu Überreaktionen führen. Wenn dann das Glas überläuft, steht man auch nicht gut da. Fraggles Tipps finde ich prima. Vllt. kannst du dich auch parallel bei einem Psychotherateuten/tin vorstellen, erstmal zur Beratung. Und nein, man verliert nicht gleich den Beamtenstatus, die behandeln sogar sehr oft LuL.

  • Mein Gefühl: geh arbeiten. Je länger du zu Hause hängst, desto mehr bauen sich Gedankenschleifen auf. Und was schon gesagt wurde: Hilfe suchen, nicht nur beim Hausarzt. Panikattacken lassen sich gut behandeln und Meditation ergänzt und unterstützt nachweislich.


    Wir befinden uns in einer Krisensituation, du mit Stellenwechsel noch zusätzlich in einer Krise. Dazu niemanden, der einen in den Arm nimmt... übel :(


    Lass dich fachlich unterstützen, das wird wieder :wink2:

  • Wenn sich die Belastung groß anfühlt und der Hausarzt Krankheit diagnostiziert, kann man das aber auch ernstnehmen und die Krankheitstage dann zuhause bleiben. Wie bei anderen Krankheiten auch.

    Der Hausarzt verweist auch weiter zu einem Arzt für Psychosomatische Medizin. Therapien werden von der Kasse bezahlt. Klar.


    Aber das ist eine längerfristige Sache. Kurzfristig kannst Du die Zeit zur Genesung und zur Erholung nutzen. Das Laufen und der Sport dürften gehen (je nach Fitnesslevel fängt man ganz klein an, aber stetig). Das Meditieren klappt oft erst, wenn man schon ein bisschen gesundet ist. Ein MBSR-Kurs hilft (auch längerfristig).


    Höre auf Deinen Arzt.


    Und falls Du den Tipp mit dem Laufen annehmen willst: viel Spaß in der Natur und im Wald! (Bzw.: gute Regeneration!)

    Liebe Grüße,


    #mindfulrunning #laufen #wald #waldbaden

  • In den Wald gehen kann ich auch sehr empfehlen! Wenn es ein Burnout ist und du dich schwach fühlst, sei aber vorsichtig! Am Anfang ist man körperlich schnell überfordert und macht es nur noch schlimmer. Aber Sonne, Luft und erstmal langsames Gehen sind auf jeden Fall gut für dich.

  • Danke euch allen für euer Verständnis und eure Gedanken und Anregungen. Und natürlich für praktischen Tipps. Ich war heute lange draußen, erst walken (das tue ich sowieso sehr gerne), dann bei einer Freundin im Garten. Für den Moment hat das gut getan, aber jetzt daheim muss ich schon wieder aufpassen. Deshalb werde ich versuchen, ob ich nicht den Arzttermin von Mitte der Woche auf morgen vorziehen kann. Vielleicht verschafft mir eine Beratung dort schon ein paar Perspektiven. Danke, dass ich hier ein offenes Ohr gefunden haben. Es wird alles sicher Zeit brauchen, aber dieses völlig hilflose Gefühle hat sich zumindest etwas gewandelt, weil ich sehe, dass andere ähnliche Krisen auch überwunden haben. Jetzt werde ich erstmal ein Puzzle anfangen, was ich mir vor längerer Zeit bestellt habe. Vielleicht hilft mir das, mich selbst auch ein wenig zusammen zu puzzeln.

  • Gut!

    Dein Bauchgefühl sagt Dir das: fühlt sich alles furchtbar an, dann gehe zum Arzt - das ist das Allerwichtigste!


    Gute Besserung!

  • Ich arbeite zum Glück auch. Habe auch nur einen Tag gefehlt, weil ich den Arztbesuch nicht aufschieben wollte. Bin jetzt in Behandlung und die Arbeit tut mir gut, weil ich komplett abgelenkt bin. Ich bin mir auch sicher, dass die Kinder nichts merken, denn ich unterrichte im Moment sowieso nicht meine eigenen. Und die anderen wissen ja nicht, dass ich normalerweise eigentlich lebhafter und lustiger bin als im Moment. Liebes Forum, ich bin immer noch froh und dankbar, dass ich hier ein offenes Ohr gefunden habe, denn das hat mir geholfen, mich soweit zu sortieren, dass ich die weiteren Schritte in Angriff nehmen konnte. Ein schönes, möglichst stressarmes Wochenende wünscht euch Annanni

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