Schleife binden - ein Fall für Schule oder Elternhaus?

  • Von welcher Motivation sprichst du? Wie soll denn ein sechs-jähriges Kind, das außer Handy und Fernsehen noch nicht viel kennenlernen durfte auf magische Weise alles können, das ein anderes sechs-jähriges Kind, das in der musikalischen Früherziehung war und zuhause freien Zugang zu unzähligen Büchern hat, kann?

    Es ging um die Motivation von Eltern (!), ihren Kindern grundlegende Erziehung und Bildung zukommen zu lassen, nicht die Motivation von Kindern und insbesondere nicht von Schulanfängern.

  • Ernst gemeinte Frage: gibt es Kinder die ohne Buntstifte und Papier groß werden?

    Ja, gibt es.

    Und ohne Kindergarten, in denen sie lernen, wie man einen Stift hält?

    Ja, gibt es.

    Kindergartenplätze sind rar. Kinder gehen nicht immer hin. Kinder gehen gar nicht hin. Kinder ziehen um und erhalten dann am neuen Wohnort keinen Platz, weil es keinen mehr gibt. Eltern möchten ihre Kinder nicht in den Kindergarten geben.

    Wenn sich der Anteil wirklich stark erhöht hat, dann muss man sich durch fragen, an welcher Stelle etwas falsch läuft.

    Ich finde, dass es ganz verschiedene Stellen sind. Bei jedem Kind in meiner Klasse könnte ich mehrere Sachen aufzählen, vieles ist nicht mit einem einzelnen Hinweis zu retten, sondern bräuchte systemische Änderungen, um diesem Kind - und ähnlichen Kindern in Zukunft - zu helfen.

    Nein, ist nicht meine Schuld.

    Vielleicht auch an dieser Stelle, wenn Eltern alles an den KiGa abgeben, und dies zum gesellschaftlichen Konsens wird. Das gibt es dann in unterschiedlichen Ausprägungen, Menschen, die das zwar äußern, aber sich durchaus um alles kümmern, bis hin zu Menschen, die das so meinen und sich nicht kümmern - weil das dann als Aufgabe des KiGA angesehen wird und man diese Aufgabe dort verortet, und Menschen, die es schlicht nicht leisten können ... aus ganz verschiedenen Gründen.

    In jedem Fall an der Stelle, an der man Vorläuferfähigkeiten als gegeben voraussetzt, weiß, dass dies nicht der Realtiät entspricht, dann den Grundschulen aufträgt, es zu retten, aber leider das Zauberpulver nicht mitschickt.

  • die Motivation von Eltern (!), ihren Kindern grundlegende Erziehung und Bildung zukommen zu lassen,

    Eltern sind da sehr motiviert.

    Sie möchten, dass ihr Kind selbstständig ist, deshalb erwarten sie früh, dass das Kind alles selbst bewältigt und regelt - ohne Unterstützung und Anleitung.

    Eltern möchten, dass ihr Kind vieles lernt, deshalb lassen sie zu, dass ihr Kind am Handy spielt und viel Bildschirmzeit hat - Digitale Bildung ist doch wichtig.

    Eltern verstehen, dass das Kind gut ernährt sein muss, deshalb sind im Frühstück wichtige Vitamine in Form von Zucker-Joghurt-Mischungen, Zucker-Obst-Mus-Mischungen u.a.

    Eltern wollen, dass das Kind nicht zurückstehen muss und gut ausgestattet ist, deshalb hat das Kind im Alter von 6 Jahren ein eigenes Handy zur freien Verfügung.

    Da kann man doch nicht sagen, die Eltern seien nicht motiviert.

  • Ich betreibe kein Migranten-Bashing. Ich habe oben geschrieben, dass zuvor in Deutschland beschulte Erwachsene aus der Sache heraus bereits Erfahrung mit Stiftnutzung haben. Falls dann jedoch die Frage aufkommen sollte, was mit denjenigen ist, die im Ausland beschult wurden, wollte ich diesen Punkt schlichtweg bereits vorweg nehmen und entkräftigen.

    Es gibt ohne Zweifel genug hochgebildete Migranten genauso wie hochgebildete Deutsche ohne Migrationshintergrund, aber ich stelle die These auf, dass deren Kinder eher weniger gemeint sind, wenn es um solche geht, die nicht eigenständig die Toilette nutzen oder einen Stift halten können.

    Falsch 'entkräftigt', ich habe Eltern, die nie in einer Schule waren und in keiner Sprache lesen können.

    Davon abgesehen geht es doch hier im thread um den angeblichen allgemeinen Verfall der Jugend, dass dieselbe Klientel unselbständiger geworden sein soll. Dass auf dem Boot geflohene Syrer andere Sorgen haben als zu basteln ist wohl allen klar.

    Was ist denn deine Beobachtung: können deine Schüler nicht alleine aufs Klo gehen oder fehlen ihnen andere grundlegende Fähigkeiten, obwohl sie diese vor einem Jahrzehnt noch hatten?

  • Ich habe da vermutlich die falsche Altersgruppe, da würde ich eher an die Kollegen von Grundschule und Sonderpädagogik verweisen. Was ich aber auf Basis meiner Altersgruppen feststellen musste, ist dass die Jugendlichen viel schneller zum Taschenrechner/Handy greifen, statt in Betracht zu ziehen, dass sie eine Aufgabe auch ohne Probleme im Kopf berechnen könnten. Und was vereinzelt immer wieder vorkommt, ist fehlende Fähigkeit, zu überprüfen, ob ein Ergebnis realistisch ist oder alleine aufgrund von Sachzusammenhängen gar nicht richtig sein kann. Nur bedingt vergleichbar mit deinen Beispielen, das ist mir natürlich bewusst.

  • Du kannst dir das offensichtlich nicht vorstellen, Gymshark, aber tatsächlich habe ich das in der Grundschulzeit meiner Kinder genau so erlebt, wie Palim es beschreibt. Meist wirklich liebevolle Eltern, die das Beste wollten. Hähnchenbein mit Mayo als Pausenbrot, damit das (bereits übergewichtige) Kind Kraft zum Lernen hat, Mütter, die viel Zeit mit dem Kind verbringen, halt beim Shoppen wie daheim in Italien, Schaukeln, Schwimmen oder Radfahren lernt man da eben nicht. Ein Vater ist jeden Tag gekommen, seinen Sohn abzuholen, nur war es manchmal halb elf, ein andres Mal halb zwei, nämlich wenn es bedeckt war. Da wusste er nicht, wie spät es ist, weil er den Sonnenstand nicht sehen konnte. Die Eltern waren auch nicht alle arm oder ungebildet. Wer aus Russland kommt, rechnet z.B. nicht damit, sich viel um die Schule kümmern zu müssen, weil man da als Eltern nichts mit zu tun hat. Eltern nehmen natürlich an, dass es so sein wird, wie sie es kennen. Dazu kommen Scham, Zurückweisungsgefühle, Kränkungen. Als deutsche Lehrkraft migrantischen Eltern etwas zu raten, ist ganz, ganz heikel, schon weil wir massiv die Kommunikationsregeln verletzen, die sie gelernt haben und für selbstverständlich halten. Es ist nicht so einfach und es geht nicht schnell. Erst muss Vertrauen aufgebaut werden, am besten durch Brückenbauer, die selbst auch andere Kulturen und die Probleme und Gefühle von Eingewanderten kennen. Wir brauchen viel mehr Hilfe in den Stadtvierteln, viel mehr Zeit, Räume, Strukturen und lassen es halt seit vielen Jahren mehr oder weniger einfach laufen.

  • Ich habe da vermutlich die falsche Altersgruppe, da würde ich eher an die Kollegen von Grundschule und Sonderpädagogik verweisen. Was ich aber auf Basis meiner Altersgruppen feststellen musste, ist dass die Jugendlichen viel schneller zum Taschenrechner/Handy greifen, statt in Betracht zu ziehen, dass sie eine Aufgabe auch ohne Probleme im Kopf berechnen könnten. Und was vereinzelt immer wieder vorkommt, ist fehlende Fähigkeit, zu überprüfen, ob ein Ergebnis realistisch ist oder alleine aufgrund von Sachzusammenhängen gar nicht richtig sein kann. Nur bedingt vergleichbar mit deinen Beispielen, das ist mir natürlich bewusst.

    Also erstens müssten ja die beschriebenen Entwicklungsauffälligkeiten in irgend einer Form in Klasse 5 noch bemerkbar sein, sonst wäre die ganze Diskussion müßig. Denn wenn Schleifebinden ab Klasse 3 klappt, reicht es ja.

    Konzentrationsfähigkeit, Feinmotorik, Selbständigkeit usw. sind aber wesentliche Fähigkeiten, die man nicht einfach so aufholen kann.

    Zum Thema Taschenrechner: der wird schneller bemüht als in deinen ersten Berufsjahren? Und was passiert, wenn du den im Unterricht nicht nutzt, also im Kopf rechnen lässt, gibt es wesentliche Auffälligkeiten im Vergleich zu früher?

  • Meist wirklich liebevolle Eltern

    Ja, so, wie sie es schaffen und können. Sie handeln ja nicht aus böser Absicht.

    migrantischen Eltern

    Das sind nicht alles Eltern mit Migrationshintergrund. In diesem Fall kommt eine höhere Sprachbarriere hinzu, manchmal ein Sprachmittler, der vermittelt oder interpretiert (was so oder so ausfallen kann).

    Für sehr viele Elterngespräche bräuchte man es sehr konkret, Missverständnisse sind häufig. In meinem Einzugsgebiet gibt es kaum Eltern, die über Gebühr triezen und Klavier-Ballett-Chinesisch-Kurse vor der Geburt buchen. Dafür gibt es durchaus Kinder, die mehrsprachig aufwachsen und mühelos switchen, aber auch welche, die ständig in ihre Erstsprache übersetzen. Es gibt einsprachig aufwachsende Kinder, deren Wortschatz winzig ist. Es gibt die Tendenz, das Kind zur Schule zu tragen und ihm alles abzunehmen und alles zu begleiten und alles zu retten, aber auch die Tendenz, dem Kind alles ab Klasse 1 selbst aufzubürden.
    Dazwischen den Mittelweg zu finden, ist gar nicht so einfach.

    Gleichschritt schafft Verlierende, die unzufrieden sind. Gut gemachte Individualisierung sieht die Kinder und wird ihnen eher gerecht, aber man fängt nicht einfach auf, was fehlt oder fehlgeleitet ist - und das in vielen Bereichen. Es stimmt nicht, dass man die Kinder dabei allein (arbeiten) lassen würde, aber die Menge an Herausforderungen ist groß. Es bräuchte weit mehr Personal und Unterstützung um dem gerecht zu werden. Die bräuchte man auch beim Gleichschritt, um denen, die nicht Schritt halten können, möglichst frühzeitig zu helfen.
    Meiner Meinung nach hat das etwas mit dem Sparzwang in der Bildung zu tun. Ich warte noch auf den Schulversuch mit mehrfacher Personalausstattung, der zeigt, dass es damit einfach besser für alle läuft.

  • Hmmm, ich halte den Stift bis heute nicht "richtig".

    Mein Sohn auch. Alle flehentlich an ihn gerichteten Sätze wie: "..., deine Mama ist Lehrerin. Kannst du nicht wenigstens in der Schule so tun, als wüsstest du, wie man den Stift hält?", blieben erfolglos. ^^ :weissnicht:

    Als Mutter von 3 Kindern kann ich nur sagen: Nicht alles liegt ursächlich bei den Eltern. Selbst Geschwister können in ihren Talenten und Schwächen total unterschiedlich sein.

  • Quittengelee : Ich habe nicht so viel Berufserfahrung wie Kollegen (m/w/d), die den Job bereits 30 Jahre oder länger ausüben. Hier wäre der Vergleich zu deren Berufsanfängen sicher noch einmal aussagekräftiger. Zu deiner Frage: Es wird zunächst gejammert, dass dies doch so anstrengend sei und ob man nicht doch... Wenn ich darauf bestehe, dass an dieser und jener Stelle auf den Taschenrechner verzichtet werden soll, machen sie es natürlich. Bei Einzelnen dauert es eventuell länger, aber im Grunde kommen die Meisten auf das Ergebnis. Ob sie dann zuhause selbst rechnen oder den Taschenrechner/das Handy nutzen, kann ich natürlich nicht kontrollieren. Ich sage ihnen immer nur, dass die Fähigkeit, etwas auch tatsächlich selbst zu können, Unabhängigkeit und Selbstbewusstsein schafft, wovon sie langfristig immer profitieren. Was sie am Ende daraus wiederum machen, hängt von dem und der Einzelnen ab. Klassischer Lehrerspruch, aber sie müssen nicht für mich lernen, sondern für sich und ihre Zukunft.

  • An meiner Brennpunktschule gab es kaum Kinder, die ich "Leistungsverweigerer" nennen würde, bzw. nicht mehr oder weniger als an den vorherigen "Bullerbüschulen". Was zuletzt deutlich zugenommen hatte, waren vernachlässigte Kinder (Kleidung, Ernährung) und Schulanfänger, die immer weniger Selbstverständlichkeiten wie Sprachkenntnisse, Regelverständnis und angemessene Fein- und Grobmotorik mitbrachten. Das war anstrengend genug... Aber lernen wollten eigentlich alle.

    Viele kommen mit sehr gesundem und liebevoll zubereiteten Frühstück in die Schule und wollen die ganze Zeit (auch im Unterricht) vespern. Bis zur Pause halten viele es nicht aus. Dass zu Hause schon gefrühstückt wird und andere, vllt. atmodische Rituale wie gleichzeitig gemeinsam am Tisch sitzen ohne ein digitales Gerät neben sich, sich unterhalten und nicht gleich aufstehen und wegrennen, wenn man fertig ist, das kennen die Kinder nicht mehr so. Das merkt man, sobald man mit den Kindern zusammen mal etwas isst. Das finde ich eigentlich schade.

  • :lach: Habe ich gemacht, wenn ich den Kinder die Stifthaltung vormachen musste.. Grundsätzlich beherrsche ich den Dreipunktgriff natürlich. Nur "schön" schreiben kann ich damit nicht, warum auch immer.

    Wenn es funktioniert, dann ist das doch gut. Es gibt auch Läufer, die erinnern an den Glöckler von Notre-Dame, und sind doch die schnellsten. Problematisch ist die Stifthaltung meines Erachtens nur, wenn man nicht längere Zeit damit schreiben kann oder zu langsam ist. Übrigens gibt es in Klasse fünf sehr viele Kinder, die die Buchstaben allenfalls im Schneckentempo drucken können. Auf die Stifthaltung habe ich dazu zugegebenermaßen noch nie geachtet.

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