Erschöpfung

  • Hallo,


    meine Freundin ist Berufsstarterin (Englisch an der Waldorfschule, 4.,5.,8. und 11. Klasse). Sie hat pro Tag 2-4 Unterrichtsstunden und ist damit immer vollkommen am Ende ihrer Kräfte.
    Für mich als "Büromensch" ist das sehr schwer nachvollziehbar.
    Kann mir das jemand von Euch versuchen zu erklären warum das so ist?
    Habt Ihr Tips?


    Danke + Grüße.
    Kai

  • Stell dir vor, du sitzt in einem Großraumbüro mit 20 Kollegen, die über 4 Stunden etwas von dir wollen (dir was erzählen, Fragen stellen, sich über Kollegen beschweren,...) du möchtest ihnen zeitglich noch von deinem neuen Projekt berichten und weiterführende Arbeit an dem Projekt deligieren. Während du von dem Projekt berichtest, gucken dich ungefähr 5 deiner Kollegen mit großen Augen an, weil sie die Fachwörter nicht alle verstehen und 5 möchten bitte unbedingt schon anfangen mit den Telefonaten die sie führen sollen, während du noch erklärst was getan werden soll.


    Alleine der Lärmpegel und die ständige Präsenz (man kann sich eben nie mal kurz hinter seinem PC verstecken, wenn man schlecht geschlafen hat oder so), den man an einer Schule hat (es gibt es ja auch noch Pause oder Gruppenarbeit, Partnerarbeit,... und da geht es eben nicht immer still zu) schlaucht gerade am Anfang (ich hoffe zumindest, dass das irgendwann besser wird) ziemlich.


    Ich weiß, dass man auch nach einem Tag Büro geschlaucht ist. Nicht, dass du mich falsch verstehst. War nur mal ein Erklärungsversuch.

  • 1. Naives Denken -> Unterrichtsstunde vorbei = Arbeitszeit vorbei. Zu jeder Unterrichtsstunde gehört normalerweise nochmal eine halbe Stunde zum Vor- UND(!)/ oder Nachbereiten.


    2. Im Büro kannst du mal eben die Maus loslassen, Raucher-/Toilettenpause machen, wenn dir danach ist, mit dem Kollegen quatschen etc.
    Das geht im Lehrerberuf nicht. Du bist in einer Schulstunde "gefangen" und MUSST in dieser Zeit ständig für eine ganze Horde Schüler zur Verfügung stehen. Und die kommen natürlich auch nicht einer nach dem anderen sondern ggf. gleichzeitig auf dich zu.


    3. Pausen - auch wenn man denkt, man hätte sie - hat man meistens kaum, da man auch im Lehrerzimmer dringende Gespräche zu führen hat, Aufsichten führt (anstrengend!)...


    4. Lärmpegel, den man aushalten muss, gegen den man sich durchsetzen muss.


    5. nervliche Belastung


    6. Als Berufseinsteiger häufig erstmal völlige Überforderung.


    Reicht dir das? ;)


    Ganz ehrlich, warum fragst du deine Freudin nicht mal, was sie im Job so belastet?


    Würde jetzt nicht ausschließen, dass deine Frage hier ganz viele fiese Antworten nach sich zieht von wegen Vorurteilen gegenüber Lehrern.


    Vielleicht nimmst du dir mal einen Tag frei (ach ja, das können Lehrer auch nicht!) und begleitest sie mal zur Schule. Damit beantwortest du dir deine Frage eigentlich am besten selbst :).

  • Begleite deine Freundin doch wirklich einmal für einen Tag in der Schule! Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Schulleitung etwas dagegen hat.


    Die Gründe, die hier genannt wurden, treffen zu. Was den Lehrerberuf noch zusätzlich von anderen Berufen unterscheidet: Du musst mit einer äußert heterogenen Gruppe ein gemeinsames Ziel innerhalb vorgegebener Zeit erreicht. Und diese Gruppe ist eine Zwangsveranstaltung: Im Gegensatz zum Studium oder Beruf sind die "Kunden" (Schüler) nicht freiwillig dabei, d.h. du hast bei vielen ein zusätzliches Motivationsproblem. Wenn man sich da zu sehr reinhängt, steigt die Burn-Out-Gefahr ins Unermessliche, darüber gibt es genug Studien.


    Gruß !

    Mikael - Experte für das Lehren und Lernen

    Einmal editiert, zuletzt von Mikael ()

  • Hat sie denn vorher ein Referendariat gemacht?
    Denn eine Unterrichtsbelastung von ca. 12 Stunden plus Seminarstress wärst du doch dann an ihr gewohnt...

  • Danke für eure Antworten!
    Ich denke ich wede den Vorschlag mal mitzugehen tatsächlich umsetzen.
    Ich denke die Situation im Unterricht sowie die zusätzlich Arbeit "drumherum" ist mir schon klar. Was ich nicht ganz verstehe ist, warum das "Abschalten" beim Lehrer-Beruf so viel schwieriger ist als bei anderen Berufen und dass es tatsächlich zu körperlicher Erschöpfung kommt.


    Danke nochmal + Grüße.
    Kai

  • Zitat

    Was ich nicht ganz verstehe ist, warum das "Abschalten" beim Lehrer-Beruf so viel schwieriger ist als bei anderen Berufen und dass es tatsächlich zu körperlicher Erschöpfung kommt.


    Mir fällt das Abschalten auch manchmal sehr schwer. Ständig die Frage: Wie hätte ich das besser machen können? Oft auch Sorge um einzelne Schüler oder Ärger, auch über mich selbst.


    Ich laufe in der Schule sehr viel herum und bin wirklich ausgepowert nachher, aber mehr nervlich als körperlich. Sport und Ruhepausen sind für mich überlebenswichtig.


    Aber man gewöhnt sich. Geh mal mit in die Schule, wenn das geht, und hab ein wenig Verständnis auch dann, wenn du es nicht wirklich verstehst ;)

  • Abschalten geht deshalb meistens so schwer (jedenfalls bei mir), weil so viele Stimmen in jeder möglichen Lautstärke, Frequenz und allen Abstufungen von "Forderungsdruck" in meinem Kopf herumschwirren wie ein Haufen "Sch****hausfliegen". Die loszuwerden, zu beschwichtigen oder abzuwiegeln kostet selbst nach der regulären Arbeitszeit viel Kraft.

  • Zitat

    Original von klöni
    Abschalten geht deshalb meistens so schwer (jedenfalls bei mir), weil so viele Stimmen in jeder möglichen Lautstärke, Frequenz und allen Abstufungen von "Forderungsdruck" in meinem Kopf herumschwirren wie ein Haufen "Sch****hausfliegen". Die loszuwerden, zu beschwichtigen oder abzuwiegeln kostet selbst nach der regulären Arbeitszeit viel Kraft.


    Du hörst Stimmen? Das halte ich aber nun wirklich für bedenklich. Klöni, du machst mir Angst!


    Gruß !

    Mikael - Experte für das Lehren und Lernen

  • Dear Mikael:
    Don't fret... mit "Stimmen" meine ich nicht DIE Stimmen eines Schizophrenen (obwohl, manchmal .... ;) ) sondern das Echo des Lärms, dem ich den Tag über ausgesetzt war, gepaart mit den Gefühlen, die sich in mir als Reaktion auf diesen Lärm und die Forderungen, Äußerungen, etc. herausgebildet haben und noch nicht abgearbeitet werden konnten. Also so ein Mix aus Lärmecho und Gefühlen... hm.... wisst ihr was ich meine, Leute, .... bitte sagt mir, dass ihr mich versteht.... :mad:
    crazy,
    klöni

    • Offizieller Beitrag
    Zitat

    Original von kleiner gruener frosch


    Nein.


    kl. gr. Frosch


    du bist doch nur neidisch, dass die stimmen nur zu uns sprechen.....

  • Zitat

    Original von kaijak
    Was ich nicht ganz verstehe ist, warum das "Abschalten" beim Lehrer-Beruf so viel schwieriger ist als bei anderen Berufen und dass es tatsächlich zu körperlicher Erschöpfung kommt.


    1. Du hast keine x - beliebigen Kunden, die du sowieso nie wiedersiehst, sondenr über lange Zeit Verantwortung für immer die gleichen Leute, von denen du unter Umständen das komplette Leben und Familie kennst. Du triffst an einem Tag hunderte geplante und ungeplante Entscheidungen und musst zig Dinge auf einmal unter einen Hut bekommen.
    Du kannst dir nicht Montags vornehmen, MIttwochs mal kürzer zu treten, weil dir Dienstags für Mittwoch ganz viele neue Dinge ins Haus flattern werden. Unheimlcih vieles ist nicht planbar und setzt sich echt im Kopf fest.


    Und das geht natürlich auf den Körper.

    • Offizieller Beitrag

    Irgeneine Studie (nein, ich habe die Quelle nicht greifbar, lässt sich aber bestimmt ergoogeln) hat die Intensität von "Stress" mal an der Frequenz der zu fällenden Entscheidungen festgemacht.
    Danach gab es dann ein Berufsranking - wobei die Lehrer bei den Top 5 waren - mit etwa 400 - 600 kleineren bis ganz großen Entscheidungen (von der Wahl der Gestaltung Tafelbildes bis hin zum Umgang mit dem schwierigen Schüler oder der eskalierenden Siuation X).


    Dazu kamen Multitasking, Lautstärke und Mangel an Regenerationsphasen als weitere Messwerte - auch da landeten Lehrer in den Top 10.

  • Ganz schlicht gefragt: Warum kümmert sich das Schulministerium nicht um die Gesundheit der Lehrkräfte?

    • Offizieller Beitrag

    Äh, nun ja, das ist in der freien Wirtschaft aber auch nicht anders bzw. noch schlimmer:
    Eine Freundin hat bei Siemens gearbeitet- von ihr wurde fest erwartet, dass sie regelmäßig weit über die 8 Stunden-Grenze geht und bei meinem Bruder (selbständiger Unternehmensberater, im Moment bei einer großen Bank) ist das auch nicht anders. Der einzige Unterschied ist der, dass die ihre Überstunden ausbezahlt bekommen oder abfeiern dürfen. Ist aber auch schwierig, Überstunden abzufeiern, wenn man gar keine Zeit dafür hat. Die in den oberen Chefetagen würden herzhaft lachen, wenn du mit so einem Anliegen kommen würdest.

  • Das bestreitet auch niemand, aber der Unterschied ist der folgende:


    Der Staat stellt die Lehrer ein. Der Staat bezahlt sie. Der Staat bezahlt auch ihre Pension, Krankenausfälle etc. Der Staat kann einen Lehrer nicht einfach entlassen.


    Das Interesse des Staates müsste da schon irgendwo liegen, seine Leute nicht zu verheizen.

    • Offizieller Beitrag

    @e.f.s kann sein, dass es die gewesen ist (hab jetzt keine 13 Pfund zahlen wollen um es rauszufinden), obwohl ich meine mich zu erinnern, eine deutsche Version gelesen zu haben (einer englischen Quelle) - auf jeden Fall interessanter link, danke! Vielleicht ist es mir die 13 Pfund ja mal bei Gelegenheit wert..

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