Studierfähigkeit

  • Es ist also nicht so, dass ein Schüler nur deshalb digitalsüchtig wird, weil er in einer Laptop-Klasse z. B. sitzt.

    Ich denke auch nicht, dass die schulische Nutzung die Einstiegsdroge ist. Das Problem besteht schon vorher und wird heutzutage durch die Art, wie soziale Medien präsentiert und gehypt werden, stark unterstützt. Ganz abgesehen davon wie heutige Online Spiele funktionieren, die ja gerade mit Verhaltenssüchten spielen und die Spieler abhängig machen.

  • Naja, schlussendlich ist es auch komplexer als das, behaupte ich jetzt mal ganz küchenpsychologisch. Zu solchen Fällen gehören leider immer sehr ähnliche Biographien. Sucht hat durchaus was mit genetischer Veranlagung zu tun, wer stärker auf psychoaktive Substanzen reagiert, hat auch ein höheres Suchtrisiko und die Biochemie bei Verhaltenssüchten funktioniert ja ähnlich. Aber ob jemand dann auch wirklich süchtig wird, hängt noch sehr stark vom sozialen Umfeld ab. Wenn ich jetzt so an meine fraglichen Jungs denke, da verorte ich z. B. sehr stark bevormundende Eltern zu Hause. Das Angebot entscheidet schlussendlich nur darüber, welche Sucht es denn nun wird.

  • Ich denke auch nicht, dass die Schule hier das Hauptproblem ist. Schulen bereiten natürlich unterschiedlich auf das Studium vor. Bei der Bandbreite an Wünschen der verschiedenen Fakultäten, was Schülerinnen können müssen, ist es auch schwierig, alles abzudecken. Wenn man hier ansetzen würde, müsste man massiv in den Mathekursen differenzieren (mehr Stochastik/ Statistik für die eine Gruppe, mehr Analysis/ Differenzialgleichungen für die andere Gruppe, mehr Beweiswerkzeuge und grundsätzliche mathematische Gedankengebäude für die dritte Gruppe und so weiter).

    Ich denke das wäre der richtige Weg. Im Grunde kann das sogar im jetzigen System gemacht werden:

    Mathe Grundkurs: vorwiegend Stochastik/Statistik

    Leistungskurs: "Angewandte Mathematik" - Statistik, Analysis/Differenzialgleichungen, lineare Algebra - alles anwendungsorientiert

    Leistungskurs: "Mathematik" - Statistik, Analysis/Differenzialgleichungen, lineare Algebra - alles beweisorientiert


    Eventuell sollte man auch das Schulfach umbenennen, um stärker zu Kennzeichnen, dass an der Schule nur ein kleines Subset der angewandten Mathematik unterrichtet wird.


    Darüber hinaus müßte die Studienberatung/Studienorientierung deutlich früher ansetzen und die Schüler deutlicher in die entsprechenden Kurse beraten werden. Ich wunder mich z.B. immer über Physikstudenten, die keinen Mathe/Physik-LK belegt hatten.


    Meine Erfahrungen als ehemaliger Tutor und Dozent an der Uni sind, dass viele Studenten an den überfrachteten Erwartungen der Mathematikvorlesungen und Tutorien scheitern. Es gibt auch noch zu viele Professoren die knallhart aussieben, ohne Blick auf die Fähigkeiten der ankommenden Studentinnen.

    Naja, das kann man auch umgekehrt sehen. Da die Uni anders als die Schule gerade nicht das Ziel hat, auch ungeeignete Studenten auszubilden, kann man genauso argumentieren, dass das Aussieben gerade die Fähigkeiten der ankommenden Studenten in den Blick nimmt.


    Wie du auch festgestellt hast, ist die Diskrepanz zwischen Mathematik in der Schule und der Uni immens groß. Ob es besser wäre auch schon mehr Abstraktheit und vertiefende Gedankengebäude in die Schule zu bringen? Ich bezweifele es.

    Auch Vorkurse, die oft nur 4 Wochen dauern, können nicht alle gewünschten Defizite aufholen. Es wäre wünschenswert längere Eingewöhnungsphasen an der Uni einzubauen, in denen man die Kluft zwischen Schulmathematik und Unimathematik überbrücken könnte.

    Solange wir eine Schulform bzw. Schulstufe haben, die explizit das Ziel der Studierfähigkeit hat, ist es strukturell der falsche Weg, wenn die Uni ihre Anforderungen nach unten korrigieren muss und ein "Vorstudium" zur Erlangung der Studierfähigkeit einführen muss.


    Was die Fachbereiche allerdings meiner Meinung nach wirklich machen müßten, dass ist eine besser Darstellung und Kommunikation der Voraussetzungen für das Studium und zwar sowohl auf institutioneller Ebene an die Schulen/Schulministerien/Lehrplanschreiber, als auch auf individueller Ebene an die Studieninteressenten.

  • Darüber hinaus müßte die Studienberatung/Studienorientierung deutlich früher ansetzen und die Schüler deutlicher in die entsprechenden Kurse beraten werden.

    Man müsste meinen, dass das hilft, tut es aber nur bedingt. Unsere Veranstaltungen zur Studienberatung sind alle verpflichtend und wirklich sehr gut, sehr ausführlich und konkret. Zudem gehen wir mit den Schwerpunktfachkursen raus an die Uni, in die Firmen, etc. und da wir überall ganz ausdrücklich gesagt was die Anforderungen sind. Die stärksten Korrelationen zur Studienabbruchquote haben bei uns die kantonale Übertrittsquote ans Gymnasium sowie das gewählte Schwerpunktfachprofil. Ich lasse die Details jetzt mal offen ;)

  • Ich wunder mich z.B. immer über Physikstudenten, die keinen Mathe/Physik-LK belegt hatten.

    Hm, ich hatte einen Physik-LK aber keinen Mathe-LK. Der Physik-LK hat mir als Vorbereitung für das Studium effektiv nicht viel gebracht... ich bin nach wie vor der Meinung, dass Grundkurs hier völlig ausreicht. Im Mathe- und Physik-LK lernt man in der Regel quantitativ mehr, mehr Themen und komplexere Aufgaben. Aber es bleibt trotzdem Schulmathematik und Schulphysik und das ist ein qualitativer Unterschied zur Uni, kein quantitativer.

  • Ich störe mich bei uns vor allem an der Mittelstufe, aber das mag wirklich schweizspezifisch sein dass ich in der Sek II dann einfach mehr die Möglichkeit habe nach meinem Dafürhalten auszudünnen weil vor allem in den Grundlagenfächern sich kaum irgendjemand dafür interessiert, was wir wirklich im Unterricht machen.

    Ich gebe zu, dass mich das im Erfahrungspraktikum in Physik damals etwas schockiert hat... vieles von dem hatte ich selbst schon in der Realschule. Dann ist mir aber klar geworden, dass sie effektiv vorher gar keine Physik hatten, sondern bestenfalls so ein „interdisziplinäres“ Naturwissenschaftsfach , auf dem man wenig bis gar nicht aufbauen kann.

    Die Reaktion im Baselland geht dezent in die richtige Richtung, es gibt jetzt eine Lektion "Mensch und Natur" weniger in der Sek I, dafür eine Lektion Mathe mehr. Ja bitte, streicht endlich das pesudo-interdisziplinäre nichts Halbes und nichts Ganzes Zeug zusammen, ein gutes Grundverständnis für Mathe ist einfach wirklich, wirklich wichtig für ganz viele andere Fachbereiche in denen man ohne solide Grundlagen in der Mathe überhaupt nicht interdisziplinär und projektartig arbeiten *kann*.

    Ja, da bin ich absolut deiner Meinung. Diese Fächer sind meines Erachtens hauptsächlich eingeführt worden, um Ausgaben zu sparen. Klar ist interdisziplinär wichtig und Projekte auch, aber bitte erst wenn die Grundlagen sitzen. Was die „Verbundfächer“ angeht, darunter muss ganz besonders Geschichte leiden, die tut mir fast mehr leid als die Naturwissenschaften. Die Resultate merkt man, das Geschichtswissen ist erschreckend gering und Grundwissen im Umgang mit einer Textquelle ist kaum vorhanden (wie ich von meinen Kollegen aus der Geschichte gehört habe).

  • Jo, die werden mit Sicherheit krass süchtig nach mathematischen learningsapps.

    "Jou, was geht ab, Alter?" "Du ich bin voll auf Mebis hängen geblieben!"


    @Lindbergh, ich habe ja Kinder im besten Computerspielsuchtalter und sehe die Mechanismen ziemlich genau vor mir. Und ja, die Gefahr ist durchaus gegeben, man muss den Konsum strukturieren. Zur Problematik gehören Youtube und Instagram, wo man einfach kleben bleibt und Spiele, bei denen ständig Schatztruhen aufblinken. Auch kranke WhatsApp-Kommunikation ist ein Problem. LernSax und Anton gehören nicht dazu. Im Gegenteil, so kann ich mit meinen Schülern und meine Kinder mit ihren Lehrern schriftlich kommunizieren und lernen, wie man das höflich macht.

  • Wo ich so über das Physikstudium nachdenke - mathematisches Verständnis bringt hier am meisten. Viele, die sich hier schwer getan oder aufgegeben haben, hatten ein gutes bis sehr gutes physikalisches Verständnis, aber kaum abstrakt-mathematisches. Physik ist zum Grossteil reine Theorie, auch wenn die Vorlesung „Experimentalphysik“ heisst. Das Experiment wird vom Assistenten vorgeführt und vom Prof kommentiert und das war’s dann mit Experimentalphysik. Eigene Experimente gibt’s nur im Laborpraktikum und das sind meistens fest installierte Versuche, die kaum eigene Kreativität erfordern. Ich weiss noch ein Erlebnis aus dem Fortgeschrittenenpraktikum, O-Ton Betreuer: „Schaltet das Gerät ein, dann könnt ihr die Daten direkt ablesen und gehen, es ist alles schon eingestellt. Verstellt bloss nichts, ich habe mehrere Tage gebraucht, um alles richtig einzustellen.“

  • Die Finnen hatten doch mal Fächer abgeschafft, hat das jemand von euch verfolgt?

    Erst 2016 und zunächst auch nur in der Oberstufe. Da ist noch nichts evaluiert.

  • Naja, das kann man auch umgekehrt sehen. Da die Uni anders als die Schule gerade nicht das Ziel hat, auch ungeeignete Studenten auszubilden, kann man genauso argumentieren, dass das Aussieben gerade die Fähigkeiten der ankommenden Studenten in den Blick nimmt.

    Die Uni soll auch nicht die ungeeigneten Studenten ausbilden, aber es wird meiner Meinung nach auch viel Potential verschenkt. Wenn sich einige Profs ein bisschen bemühen würden, wäre die Abbrecherquote nicht so hoch. Aber Lehre hat bei vielen Profs keine hohen Stellenwert. Ich erinnere mich noch an meinen Prof in Lineare Algebra. Der Kurs wurde von ihm mit Absicht so durchgeführt, das nach 4 Wochen die meisten aufgegeben haben (In Woche 4 hat er mit Dualräumen angefangen, damit killst du bewusst fast jeden). Man hatte dann die Wahl sich alleine oder in Gruppen durch das Lehrbuch zu quälen oder im nächsten Semester den Kurs mit einem "besseren" Prof auszuwählen. Das war leider nicht die Ausnahme. Ich erinnere mich glücklicherweise aber auch an Profs wie Grotemeyer die sich wirklich Mühe gegeben haben, vernünftige Skripts erarbeitet und auch rausgegeben haben, einen roten Faden verfolgt haben, er wollte die Mathematik den Leuten wirklich vermitteln.

    Das gleiche Phänomen sehe ich auch bei Mathematikern, die in anderen Fakultäten dann die Mathevorlesungen halten und dort noch viel mehr Schaden anrichten.

    Vielleicht sollte man fairerweise auch sagen, dass die Profs die Didaktik auch nirgendswo gelernt haben. Es braucht vielleicht doch eher eine Trennung zwischen Forschung und Lehre in der Uni mit einigen Berührungspunkten in den Hauptseminaren, aber mit Begleitung von Didaktikern ;)

  • hab zwar nicht Physik studiert, aber für meinen Physik LK (12-13 Punkte) haben mein fachliches Interesse und meine sehr schlechten Mathe-Grundkurs-Kenntnisse (4-5 Punkte) absolut ausgereicht. Letztlich musste man ja nur irgendwelche Formeln aus der Formelsammlung zusammen- und umstellen und da Konstanten und Messwerte einsetzen. Da mein Mathelehrer - leider hatte ich von 5-11 den selben - quasi nur Beweise und Ausnahmen unterrichtet hatte, war ich dafür angemessen gerüstet ; ) Ich hätte gern mit Physik im Studium weitergemacht, aber mir war schon klar, dass ich an Mathe scheitern würde.

  • Ich bin ja der Meinung, dass, wer Dozent werden möchte, nicht nur Fachlich auf der Höhe sein sollte, sondern in irgendeiner Form auch in Hochschuldidaktik fortgebildet werden sollte, denn die gehört zur adressatengerechten Vermittlung von Fachinhalten auch dazu.

    Beispiel: Ich brauchte damals ewig bis ich die vollständige Induktion bzw. elementare Abbildungen (bijektiv, injektiv, surjektiv) verstand, weil mir der Schritt in die Theorie zu schnell ablief. Als es mir mal wirklich plastisch mit einfachen Beispielen gezeigt wurde, dachte ich mir auch: "Hätte man es mir nicht von Anfang an so zeigen können?".

    Daher: In deinem konkreten geschilderten Fall hätte man meiner Meinung nach stärker unterscheiden sollen, was angehende Grundschullehrer, was angehende Gymnasiallehrer und was angehende Fachmathematiker benötigen. Wenn man der Meinung ist, dass Grundschullehrer Wissen über lineare Algebra benötigen, dann wenigstens so anschaulich wie möglich.

  • Ich bin mir nicht sicher, ob du verstanden hast, dass eine Vorlesung, egal wie didaktisch gut sie aufbereitet ist, kein Unterricht ist, den man Schritt für Schritt bis ins letzte Detail folgt und die Inhalte dann "verstanden hat". Es ist Teil des Lernprozesses an der Uni, sich die Dinge selbstständig zu erarbeiten.

  • Ich bin mir nicht sicher, ob du verstanden hast, dass eine Vorlesung, egal wie didaktisch gut sie aufbereitet ist, kein Unterricht ist, den man Schritt für Schritt bis ins letzte Detail folgt und die Inhalte dann "verstanden hat". Es ist Teil des Lernprozesses an der Uni, sich die Dinge selbstständig zu erarbeiten.

    Ich erwarte von einer Vorlesung an der Uni schon, dass ich als Student grundsätzlich nachvollziehen kann, worum es geht sonst brauch ich nicht hingehen. Leider hatte ich auch einige dabei, bei denen ich mir einfach direkt das Buch genommen habe und zu Hause geblieben bin. Lehre ist an deutschen Unis durchaus ein Problem. Absolut grauenvoll waren die Seminare in der Organischen Chemie. Das erzählt aber jeder Chemiker, egal an welcher Uni er studiert hat genau gleich. Wenn man sowas an der Schule bringen würde, wäre man seine Job schneller los als man Retrosynthese aussprechen kann.

  • Das ist Ansichtssache. Ich kann mir theoretisch auch ein Lehrbuch aus der Unibibliothek zum Lernen nehmen. Wenn ich in die Vorlesung gehe, erwarte ich schon, nachher schlauer zu sein als vorher. Bei einer didaktisch gut aufbereiteten Lehrveranstaltung ist das eher der Fall als bei einer didaktisch schlecht aufbereiteten Lehrveranstaltung.

  • Zum Thema Didaktik und lieber mit dem Buch zuhause lernen noch eine Anekdote. In meiner Festkörperphysik Vorlesung kam der Professor (damals ein international bekannter Experte in seinem Fachgebiet), in den Vorlesungssaal (keine Fenster) legte sein Skript auf den Overhead (seine Sekretärin hatte alles auf Folien kopiert), dimmte das Licht und begann, gestützt auf seinen Zeigestock, einen 45minütigen Redeschwall wobei er alle 5 Minuten die Folie wechselte. Die Schnittmenge zwischen Inhalt der Folie und Inhalt seines Monologs war minimal. Aber ergänzt hat er seinen Vortrag mir random eingestreuten „lustigen“ Anekdoten, über die er selbst herzlich gelacht hat... er war der einzige...

  • Ich erwarte von einer Vorlesung an der Uni schon, dass ich als Student grundsätzlich nachvollziehen kann, worum es geht sonst brauch ich nicht hingehen.

    Grundsätzlich ja, aber die oben vom Studenten genannten Begriffe fliegen einem nicht spontan während der Vorlesung zu. Da ist nicht die Zeit, das zu erklären wie in der Schule, bis es der letzte verstanden hat und mit "plastischen Beispielen" (was auch immer das sein soll).

  • Ich gebe zu, dass mich das im Erfahrungspraktikum in Physik damals etwas schockiert hat... vieles von dem hatte ich selbst schon in der Realschule. Dann ist mir aber klar geworden, dass sie effektiv vorher gar keine Physik hatten, sondern bestenfalls so ein „interdisziplinäres“ Naturwissenschaftsfach , auf dem man wenig bis gar nicht aufbauen kann

    In der Physik geht es erheblich besser als in der Chemie denn Physik wird in den meisten Kantonen in der Mittelstufe als eigenständiges Fach unterrichtet. Ich mache das jetzt ja zum ersten Mal aber in der Kinematik konnten die Jugendlichen zumindest mal alle Phänomene richtig benennen, auch Begrifflichkeiten wie "direkt proportional" konnten sie richtig erklären. Sie rechnen viel zu langsam, es hängt - oh Wunder - an der Mathe. Chemie wird im Baselland als Verbundfach mit Biologie unterrichtet und dann gibt es die, die haben schon mal ein paar Begriffe wie "exotherm/endotherm" gehört und es gibt die, die wissen im Grunde gar nichts. Im Aargau ist Chemie an der Bezirksschule ein eigenständiges Fach, mit denen könnte ich eigentlich direkt den Atombau repetieren und mir die Stoffgemische sparen. Ich habe dann irgendwann mal angefangen die Reaktionsgeschwindigkeit in die 1. Klasse vorzuziehen damit ich was machen kann was für alle neu ist und die Fricktaler nicht dauernd meinen, sie könnten alles schon. Das Gefährliche ist ja, dass sie den Moment verpassen an dem es wirklich komplizierter wird.

Werbung