Muttersprachler im (Anfänger-!) Fremdsprachunterricht - Erfahrungswerte?

  • Hallo zusammen,


    ich habe heute meine neue 5. Klasse kennengelernt, in der ich in den kommenden Schuljahren Englisch unterrichten werde. Dabei habe ich erfahren, dass einer meiner künftigen Schüler Muttersprachler ist - und nun bald im Anfängerunterricht sitzt, wo es mit Adam und Eva losgeht (Farben, Alphabet, Zahlen, einfachste Phrasen).


    Ich überlege daher, wie ich diesem Schüler gerecht werden kann.


    Lasse ich ihn normal am Unterricht teilnehmen? Dann riskiere ich Unterforderung oder allenfalls die Degradierung dieses Schülers zum "Aushilfslehrer", wenn er Klassenkameraden Hilfestellung gibt. Für sich selbst lernt er so aber wenig.


    Gebe ich ihm ein ganz eigenes Pensum an Texten und Aufgaben? Dann habe ich nicht nur einen einen kollosalen Mehraufwand an Vorbereitung; ich schließe den Schüler auch qua Aufgabenstellung aus dem Klassenverband aus. "das ist der, der mit was eigenem in der Ecke sitzt." Und das darf gerade in der Findungsphase in Klasse 5 nicht passieren, Stichwort: Soziales Lernen.


    Der Königsweg liegt vermutlich irgendwo zwischen den beiden oben geschilderten Extrempositionen. Gefunden habe ich ihn aber freilich noch nicht. Vielleicht hat jemand von euch entweder bereits Erfahrungen mit einer ähnlichen Konstellation oder aus dem Stand eine gute Idee, wie ich den Spagat zwischen adäquater Förderung dieses Schülers und vertretbarem Arbeitsaufwand hinkriege. ;)

  • Ich würde da vielleicht auch einfach mal den Schüler fragen was er will.
    Übrigens: ich hatte mal einen Muttersprachler im Ref, der sprach zwar zu Hause Englisch, aber konnte kein Wort schreiben und sein Englisch war sehr umgangssprachlich. Das hat es sehr erschwert mit ihm zu arbeiten.

    Only Robinson Crusoe had everything done by Friday.

  • Ich hatte zwar so etwas noh nie selbst, könnte mir aber vorstellen, dass er die englische Grammatik nicht im Detail kennt. Ich gehe mal von mir als deutschen Muttersprachler aus und ich habe deutsche Grammatik auch erst in der Schule gelernt und vertieft eh erst, als ich mich mit Englisch als Unterrichtsfach beschäftigen musste und wo die Unterschiede zwischen Deutsch und Englisch sind. Ich würde mal schauen, was er in der Richtung überhaupt kann.
    Dann kommt noch das Thema Rechtschreibung dazu. Vielleicht kann er alles nur mündlich, hat aber wenig Schriftkenntnisse. Großes Feld, was man bearbeiten lassen kann.
    Vielleicht hast du noch einen Überflieger in der Klasse und die können etwas zusammen bearbeiten, wenn es zu langweilig ist.
    Das sind jetzt erst einmal meine Ideen.

  • Ich denke, ich würde ihn bei Allem, was im Klassenverband insgesamt geschieht, also Einführungen durch dich, Hörübungen, Sprechübungen etc., erstmal ganz normal mitmachen lassen. Ich habe nämlich auch die Erfahrung gemacht, dass das Sprachniveau und insbesondere auch Hörverständnis oft recht niedrig ist, wenn die Kinder nur in ihrer eigenen Familie die Sprache sprechen. Und für schriftliche Aufgaben würde ich dann, seinem Leistungsstand entsprechend, ein Schulbuch/Arbeitsbuch anschaffen lassen, mit dem er dann weiterarbeiten kann.

  • In meiner letzten Klasse hatte ich einen zweisprachig aufgewachsenen Schüler, Vater sprach nur Englisch, Mutter sprach Deutsch mit ihm. Er konnte kaum ein englisches Wort richtig schreiben.
    Bei dem hätte ich z.B. einen erhöhten Schwerpunkt auf die Schreibung der Wörter gelegt, wo die anderen noch die Vokabeln sprechen lernen.


    Wie andere schon schrieben: Lerne das Kind kennen. Vielleicht ist es auch jemand, der "Hilfslehrer" als tolle Aufgabe ansieht und das gerne mal macht. Dann würde ich ihn das phasenweise tun lassen, ihm aber auch regelmäßig eigene Aufgaben geben - je nach Leistungsstand.

    SCHOKOEIS!


    Ich lese und schreibe nach dem Paretoprinzip.

  • Hallo ihr alle,


    habt herzlichen Dank für eure Antworten und die vielen guten Vorschläge!


    Dass ich ihn erstmal selbst kennenlernen will, versteht sich. Aber man will die Zwischenzeit dann doch auch nutzen, um sich etwas vorzubereiten. ;)


    Die Vermutung, dass insbesondere auf die Rechtschreibung viel Wert gelegt werden muss, hatte ich auch. Ich werd's in Kürze mal mit einem kleinen Diagnosediktat prüfen. Gerade das Englische mit seiner eigenwilligen Schreibung und schlechten Graphem-Phonem-Korrespondenz bietet an dieser Front ja reichlich Herausforderungen (hier beliebiges Bernard Shaw-Zitat einfügen).


    Auch der Hinweis auf die Grammatik ist gut, wenngleich der sich zwischen Muttersprache und Fremdsprache stark unterscheidet (Muttersprache: Grammatische Terminologie und Sprachreflexion, Fremdsprache: Flexionserwerb und korrekte Verwendung). Vielleicht gibt es dennoch das ein oder andere, das ihm hilft, etwa die If-clauses Typ II, die ich aus amerikanischer Richtung immer häufiger mit "If I would..." gebildet höre.

  • Ich hatte auch einmal eine Muttersprachlerin in Englisch in der 4. Klasse. Sie wollte gar nicht besonders auffallen, hat alles tapfer mitgemacht, allerdings habe ich sie manchmal als "Expertin" eingesetzt, gerne vorlesen lassen oder kleine Zusammenfassungen des Themas auf Englisch vortragen lassen.

  • Ich war als Kind/Jugendliche in einer ähnlichen Situation weil ich seit dem 6. Lebensjahr fließend Englisch spreche. Ganz ehrlich, ich fand es am besten, wenn ich den ganz „normalen“ Unterricht mitmachen durfte und habe mich über eine 1 nach der anderen gefreut. :)


    Ganz schlimm fand ich es (sorry @Frapper) wenn ich irgendwelche Grammatikregeln pauken musste, die ich mir eh nie gemerkt habe, weil ich es sowieso richtig gemacht habe, auch ohne die konkrete Regel zu kennen.


    Die Frage ist auch: Kann man etwas als „falsch“ bezeichnen, wenn es unter Muttersprachlern gebräuchlich ist? Klassisches Beispiel mit would im if-Satz wurde schon genannt. Ein weiteres wäre das get-Passive. Ersteres würde ich jetzt ebenso als Fehler betrachten, Zweiteres hingegen nicht.


    Bei der Rechtschreibung, da stimme ich zu, da haben Muttersprachler auch oft Nachholbedarf.

  • ... sie manchmal als "Expertin" eingesetzt, gerne vorlesen lassen oder kleine Zusammenfassungen des Themas auf Englisch vortragen lassen.

    Vielleicht hat er/sie ja auch Lust, mal ein einfaches Buch vorzustellen oder über sein/ihr Haustier bzw. Hobby zu referieren? Dann profitieren alle davon...

  • meine bisher eindeutig schriftlich schlechteste Oberstufenschülerin in der Fremdsprache war eine "Muttersprachlerin". Der Lehrer der Sek I (Realschule) hat sie als "Expertin" wahrgenommen, war sich vermutlich selbst nicht sooo sicher, wie man alles sagt (meine Vermutung über den häufigen fachfremden Unterricht der Sek I) und hat ihr ständig ihre 1 gegeben, dafür, dass sie in Ruhe Bücher gelesen hat oder so.
    Fazit: jedes 2. Wort schriftlich war falsch, ihre Grammatik war übrigens auch eine vergleichbare Katastrophe. Die Mutter war mal Muttersprachlerin gewesen, ihre Sprache war unglaublich eingedeutscht, das Mischmasch am Ende war eine Katastrophe.
    Das Mädel hat echt geschluckt, dass sie bei mir fast durchgehend 5er schrieb und ich ihr mündlich trotz ständiger Präzens maximal eine 2minus geben wollte.


    Also: normaler Unterricht tut manchmal auch nicht weh.

  • @chilipaprika, weil es mich interessiert und evlt. weißt du es, musste die Schülerin in SekI keine Arbeiten mitschreiben? Dann hätte doch ihre schlechte schriftliche Leistung auffallen müssen. :gruebel:

    Gerade in Elternzeit, deshalb fast nur stille Mitleserin :essen:

  • Die Schülerin musste natürlich Arbeiten schreiben, aber ich sage es mal so: der Lehrer (den ich nicht kenne, weil sie an einer weiter entfernten Realschule war, die ich gar nicht kenne) war wahrscheinlich ein "(für mich und meine bisherigen Erfahrungen!) typischer Französischrealschullehrer". Sprich: hatte Französisch bis zum Abi, hat Englisch und Geschichte studiert und unterrichtet jetzt fachfremd Deutsch, Französisch, Erdkunde und Politik dazu. [Bei den uns zuliefernden Real- und Sekundarschulen außer einer gibt es meines Wissens nach zur Zeit keinen einzigen ausgebildeten Französischlehrer. Die neue Lehrkraft wurde mit A13 gelockt und will jetzt schon wieder weg...] Die Schülerin hat selbst gesagt, dass ihre Arbeiten nicht so gut waren, (aber nie eine 5, sondern eher so ne 3 aber mündlich sei sie ja soooo gut), der Lehrer aber immer meinte, Muttersprachler wissen es ja besser, manchmal seien Bücher zu veraltet und normativ...
    Ich kann mir es gut vorstellen und mache also dem Lehrer keinen Vorwurf: ICH zweifle als (richtige!) Muttersprachlerin oft genug, weil Schülerinnen und Schüler ständig die selben Fehler machen, ich will nicht wissen, wie es sich auf nicht studierte Menschen auswirkt, die sich auf ihre Schulkenntnisse berufen müssen. Ich schließe aber auch nicht aus, dass der Mensch auch einfach nur furchtbar nachlässig war...

  • Ich schreibe mal was dazu als Klassenlehrerin einer Klasse mit den Schwerpunktfächern Italienisch, Spanisch und Latein. Spanisch ist bei uns in der gymnasialen Oberstufe eine neubeginnende Fremdsprache und kann eben als Schwerpunktfach (vergleichbar einem Leistungskurs) gewählt werden. Häufig sind da aber SuS dabei, die zu Hause zweisprachig aufwachsen und meinen, sie könnten mit Spanisch eine ruhige Kugel am Gym schieben. Wie bereits meine Vorredner schrieben ist es aber oft so, dass die nur Umgangssprache können und in Grammatik und Rechtschreibung sehr schlecht sind. Dann machen sie den ganz normalen Spanischunterricht mit und kassieren zu Beginn eben ein paar schlechte Noten ein, bis sie merken wo der Hammer hängt (oder halt auch nicht). Einzelne SuS sind immer dabei, die's wirklich können und für die betreiben unsere Spanisch-Kollegen dann tatsächlich den Aufwand, dass diese SuS von Beginn an Spanisch als Literaturfach lernen. Es ist ja nur das eine Fach, in dem die ne Extra-Wurst bekommen, von daher gibt es auch nie Probleme mit dem Klassengefüge. Prüfungen schreiben übrigens immer alle die gleichen, es muss ja schon noch fair bleiben für die, die es dann eben wirklich können. Italienisch müssen die SuS (noch) entweder bereits in der Mittelstufe als Freifach belegt haben um es am Gymnasium als Schwerpunktfach zu wählen, oder sie müssen zu Hause Italienisch als Zweitsprache sprechen. Von meinen I-Schülern hat jetzt ausgerechnet derjenige, dessen Vater Italiener ist, schon die zweite ungenügende Note einkassiert, beim Rest läuft es.

  • Ich muss mich einigen Vorrednern anschließen, dass Muttersprachler oft Probleme mit Rechtschreibung und Grammatik haben.


    Lern den Schüler und seinen Leistungsstand erstmal kennen bevor Du einen Plan machst.

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