Cancel Culture - Wie weit darf Meinungsfreiheit gehen?

  • Meinungsfreiheit ist ein Grundrecht gegenüber dem Staat. Der Staat darf mich nicht anders behandeln, weil ich eine "unkonventionelle Meinung" habe. Meinungsfreiheit ist kein Recht gegenüber meinem Arbeitgeber oder anderen Menschen. Wenn ich da eine "unkonventionelle Meinung" äußere, dann kann und wird das natürlich Konsequenzen haben.

    Ich möchte das noch mal zitieren, weil in der Gesellschaft ständig falsch der Begriff Meinungsfreiheit benutzt wird.


    Wenn privat ein Bekannter oder Freund eine Meinung vertritt, die ich inakzeptabel finde, steht es mir frei, mit dem nichts mehr zu tun zu haben. Das macht jeder von uns so, und zwar ständig. Wenn sich irgendjemand öffentlich hinstellt und aus meiner Sicht geistigen Dünnpfiff, Rassismus, was diskriminierendes oder ähnliches raus tönt, darf jeder(!) den Umgang mit der Person aufkündigen. Nur weil ich das auf einmal im TV gemacht habe oder weil ich berühmt bin, schützt ihr das doch nicht vor Ablehnung.


    Dinge, die aus meiner Sicht niemandem zustehen zu kritisieren: Alles, was man selbst nicht verändern kann. Beispiele


    nicht veränderbar:

    - Hautfarbe

    - sexuelle Orientierung

    - Behinderungen


    veränderbar:

    - politische Einstellung

    - religiöse Einstellung

    - Umgang mit Mitmenschen


    Platt formuliert: Einen Schwulen zu kritisieren, weil er schwul ist, finde ich absolut daneben und steht niemandem zu. Einem AfD-Fan seine rechtsradikale Partei unter die Nase zu reiben und ihn danach zu meiden: absolut legitim! Einem katholischem Pfarrer sein veraltetes Weltbild seines Arbeitgebers unter die Nase reiben und ihn danach meiden: absolut legim.


    Nachtrag : Da es sich bei dem letzten Absatz um meine Meinung handelt, darf mich deswegen natürlich auch jeder ignorieren. Ich heul dann aber nicht rum, weil ich gecancelt werde!

  • @Berufsschule93: Nochmal, ich finde die Äußerungen daneben und falsch und würde mit einer solchen Person auch keinen Kontakt haben wollen, aber: Keine der Äußerungen ist direkt gegen die Person gerichtet. Das "nicht normal sein" dürfte als Meinungsäußerung genauso zulässig sein wie das "eklig finden von küssen", das "Frauen ficken" ist geschmacklos aber auch nicht beleidigend. Aus dem "schwul sein ist scheiße" könnte man was machen, aber selbst da wurde ja ersichtlich kein Personenbezug hergestellt. Ich kenne weder das Format, noch die konkrete Sendung, vermute aber, dass es sich hier eher um ein schichtspezifisches Sprachproblem handelt, dass für den durchschnittlichen Akademiker sehr ungewohnt klingt.


    Ich finde, aus grundsätzlichen Überlegungen, dass sich der Staat sowohl strafrechtlich, als auch regulatorisch aus Meinungsäußerungen heraushalten sollte. Wer dazu eine fundierte Basis haben will: John Stuart Mill - On liberty...ist etwas betagt, hat aber nicht das geringste an Aktualität verloren. Mill argumentiert, mit guten Gründen, auch gegen die privaten Konsequenzen einer moralisierenden Gesellschaft, aber da kann ich die andere Seite zu gut nachvollziehen. ;)

    If you look for the light, you can often find it.
    But if you look for the dark that is all you will ever see.

  • Ich finde, aus grundsätzlichen Überlegungen, dass sich der Staat sowohl strafrechtlich, als auch regulatorisch aus Meinungsäußerungen heraushalten sollte.

    Tut er in vielen Fällen ja auch - auch wenn irgendwelche Querdenker oder Rechte das anders sehen. Aus meiner Sicht hat der Staat dann regulatorisch einzugreifen, wenn es gegen die Menschenwürde einzelner Personen oder konkreter Gruppen geht. Hier habe ich für mich persönlich rechtliche Abgrenzungsschwierigkeiten. Ich finde, die Aussage "Soldaten sind Mörder" muss möglich sein. Eine rassistische Äußerung (die ich jetzt absichtlich ohne Beispiel lasse) muss es nicht. Ich hab leider nicht die Zeit, dein Buch zu lesen (und es hört sich Englisch an, brrr :-)). Ist Mill ein Verfechter der fast absoluten Meinungsfreiheit wie in den USA? Wie geht er damit um, dass Sprache die Realität verändert und grob rassistische oder diskriminierende Sprache die Gesellschaft durchaus in eine solche Richtung ändern kann? (Kann man das überhaupt in ein paar Sätzen zusammenfassen)

  • Danke, Pyro , welches Buch von oder über Karl Popper würdest du zum Einstieg empfehlen?

    Das sogenannte Toleranzparadoxon („Muss die Toleranz die Intoleranz tolerieren?“) wird im Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ behandelt - ist sicher lesenswert.

    Für den Anfang vielleicht besser „Alle Menschen sind Philosophen“. Auch „Alles Leben ist Problemlösen“ ist interessant.

    Ich meine, man kann direkt Popper selbst lesen und nicht über Popper.

    Die Weisheit des Alters kann uns nicht ersetzen, was wir an Jugendtorheiten versäumt haben. (Bertrand Russell)

  • Natürlich ging es da hoch her. J.K. Rowling hat gemeint, dass alle Transfrauen eigentlich nur Männer sind, die sich als Frauen anziehen möchten, um Zugang zu Orten zu bekommen, wo nur Frauen hindürften (z.B. Toilette), um diese dort zu vergewaltigen. Das ist extrem daneben und nicht nur bezogen auf das T in LGBTQI+, sondern auch ggü. allen Männern.

    Das hat sie so überhaupt nicht geschrieben. Da sind ihr auch einige Trans-Leute beigesprungen. Es geht in der ganzen Trans-Debatte im englischsprachigen Raum darum, dass Personen aus dieser sehr kleinen Gruppe ihr Geschlecht (so weit es eben geht) wechseln möchten und was die rechtliche Grundlage dafür bildet. In England war dafür die reine Selbstidentifikation zeitweilig eine akzeptierte Form, was eben zu Problemen führt(e). Da ging es vornehmlich gar nicht um die Transfrauen selbst, sondern dass wirklich jeder Mann das überall nutzen kann. Die Erklärung "Ich bin eine Frau" genügte, um sich Zugang zu allen geschlechtergetrennten Bereichen zu verschaffen. Ich muss ja wohl kaum darauf hinweisen, warum diese Geschlechtertrennung irgendwann einmal eingeführt wurde. Hier wurden verurteilte Sexualstraftäter unter dieser Prämisse in Frauengefängnisse geschickt - kein Witz! - und was sie dort mit ihren "weiblichen Penissen" getan haben, kann sich wohl jeder denken. Dass Feministinnen über so etwas nicht amüsiert sind, ist wenig verwunderlich.

    Hier kollidieren klar wichtige, wenn nicht gar essentielle Rechte verschiedener Gruppen und es muss darüber diskutiert werden, wo man Kompromisse finden kann. Das ist natürlich bei so einer aufgeheizten Stimmung äußerst schwierig, wenn man sich gegenseitig mit Beleidigungen verunglimpft. Die Bereitschaft der Gegenseite direkt erst einmal nur böswillige Intentionen zu unterstellen ist sehr groß. Das Zitat oben ist in meinen Augen ein Prachtexemplar davon.

    Eine reine Selbstidentifikation ist da in meinen Augen nicht möglich, da für uns "Normalos" die zweigeschlechtliche biologische Ordnung einfach eine bedeutsame Grundlage bildet, die man nicht so ohne weiteres aufgeben kann.


    Mittlerweile haben sich in zahlreichen Ländern LGB-Verbände in Abspaltung zum T und den ganzen anderen "Gendern" gegründet, weil hier zwei verschiedene Weltbilder zu Grunde liegen. Auch in der deutschen Queer-Szene hat es in den letzten Jahren ordentlich gerummst (Patsy L'Amour laLove - Beißreflexe, Till Randolf Amelung - Irrwege). Ich glaube als Normalbürger hat man überhaupt keine Vorstellung davon, was das für eine Szene ist, die in ihrer eigenen kleinen Welt lebt. Ich halte mich als schwuler Mann wirklich fern davon, weil es teilweise so lebensfremd ist. Ich bin im klassischen Verständnis schwul, weil ich als Mann auf andere Männer(körper) stehe. In der Trans-/Queerdenke wäre ich aber ein sich als Mann identifizierender Mensch, der auf andere Menschen steht, die sich als Mann identifizieren. Da ist man auch mal wie Judith Butler oder Heinrich Horwitz eine non-binäre Lesbe - also weder Mann noch Frau, aber dann doch Frau, die auf Frauen steht. Sorry, aber diese beiden Weltsichten gehen einfach nicht zusammen und zweitere ist in meinen Augen auch völlig absurd.



    Ich kann auch nur warnen, sich mit der Rassismus-Keule ein paar einfache Likes abzuholen. Das Thema ist wahnsinnig komplex und ich beobachte immer mehr, wie sich die Critical Race Theory auch in unseren Diskurs einschleicht. Hier wird ein amerikanisches Modell importiert, das so gar nicht auf Deutschland passt. Mittlerweile sprechen sich ja auch unglaublich viele schwarze Intelellektuelle und Größen wie u.a. Glenn Loury, John Mc Whorter, Jason Riley, Thomas Sowell, Coleman Hughes und Larry Elder dagegen aus. Macron und einige französische Intelektuelle haben ebenfalls davor gewarnt. Sich deren Positionen anzuhören, lohnt sich.

    John McWhorter hat schon vor Jahren diese amerikanische Antirassismus-Bewegung als neue Religion bezeichnet und gute Argumente dafür angeführt (bei Unherd auf YT hat er neulich ein sehr gutes Interview dazu gegeben). Black Lives Matter haben ja auch weitere politische Ziele (Abschaffung von Polizei, Abschaffung des Kapitalismus, Abschaffung der Kernfamilie) und die beiden Gründerinnen bezeichnen sich selbst als "trained marxists".


    Twitter ist wirklich eine Schlangengrube, auf die viel zu viel gehört wird, und so haben sich viele leider in ihren ideologischen Gräben eingebuddelt und versuchen, die Gegenseite möglichst schwach zu machen.

  • Verlink die juristischen Ausführungen

    Ich kann leider nicht mit juristischen Ausführungen dienen, dafür aber mit folgendem Hinweis: Eine Beleidigung ist in erster Linie eine Ehrverletzung, die persönlich sein muss. Das deutsche Strafrecht tut sich mit dem Ehrbegriff durchaus schwer, insbesondere sind generalisierte "Ehrabschneidungen" im Sinne einer über das Invidiuum hinausgehenden Gruppenehre nicht in selbigem abgebildet. Zum Thema Ehre und Beleidigung empfehle ich die sehr lesenswerten Beiträge von Herrn Fischer: https://www.zeit.de/gesellscha…e-justiz-fischer-im-recht


    Insofern: Bei aller Ekligkeit solcher Aussagen sind sie nicht im Sinne des Strafrechts strafbar.

  • Bedeutet das wiederum, dass "Ich finde es eklig, dass sich Herr Müller und Frau Meier küssen." eine Beleidigung ist, "Ich finde es eklig, dass sich [Mitglied der Demographie eurer Wahl] und [Mitglied der Demographie eurer Wahl] küssen." jedoch nicht, da keine Ehrverletzung und keine persönliche Nähe?

  • Zum allgemeinen Thema: Genauso wie man sich auf die Meinungsfreiheit berufen möchte, muss man akzeptieren, dass andere Menschen eine Meinung wahlweise entweder scheisse finden oder ihre eigene Freiheit dazu nuten, einem nicht mehr zuzuhören. "Cancele" ich dann? Ja. Interessiert es mich, ob der Andere dann weint? Nein.


    Um es konkret zu machen: Wer rassistische oder sexistische Äußerungen verbreitet, der hat bei mir persönlich Pech gehabt. Und wer sowas unterstützt, der auch. Da ist mir egal ob man "Rowling" heißt oder "Liefers".

    Einzige Ausnahme: Wenn ich glaube, dass der andere die Tragweite seiner Aussage nicht überblicken kann.

  • Bedeutet das wiederum, dass "Ich finde es eklig, dass sich Herr Müller und Frau Meier küssen." eine Beleidigung ist, "Ich finde es eklig, dass sich [Mitglied der Demographie eurer Wahl] und [Mitglied der Demographie eurer Wahl] küssen." jedoch nicht, da keine Ehrverletzung und keine persönliche Nähe?

    Meines Verständnisses nach genau das. Ich bin allerdings kein Jurist.

  • Nochmal, ich finde die Äußerungen daneben und falsch und würde mit einer solchen Person auch keinen Kontakt haben wollen

    Das glaube ich dir, auch bei noch einer Wiederholung, nicht.

  • Muss man eigentlich seine Meinung unbedingt überall kundtun - gerade wenn man antizipieren könnte, dass es zu entsprechenden Reaktionen kommen könnte?

    Ich frage mich dann immer, was der Nutzen ist, wenn man sich hinstellt und postuliert, dass man es eklig findet, wenn sich zwei Männer küssen?
    Warum muss man das unbedingt äußern?
    Warum kann man diese Haltung nicht für sich behalten?

    Ist es letztlich nicht pure Geltungssucht?

    Gruß
    #TheRealBolzbold

    Ceterum censeo factionem AfD non esse eligendam.

  • Danke. Das war seit langem mal einer der wenigen differenzierten Einblicke eines "Insiders", der nicht den Eindruck erweckt a) nur nach positiver Aufmerksamkeit ("Seht, wie openminded und progressive ich doch bin, seht, wie viel besser als ihr ich bin.") zu heischen scheint und b) aus dem Inneren heraus das Geschehen kritisch hinterfragt.


    Ich bin in meinem Studium und auch danach recht viel in der Szene unterwegs gewesen, was sich einfach ergab, weil viele meiner Freunde lesbisch/schwul sind und dort verkehren/verkehrten. Es gab sehr oft viele und lange Gespräche, auch in den letzten Jahren. Ich hatte oft den EIndruck, dass die wenigsten dieser mir sehr nahestehenden Menschen wirklich etwas mit dem derzeitigen Diskurs über LGBT usw. anfangen kann und sich keineswegs repräsentiert fühlt, ähnlich wie es vielen (jungen) Frauen in Bezug auf die heutigen Nuancen in der Feminismusdebatte geht.

  • Dem kann ich nur zustimmen. Manchmal ist es sehr sinnvoll zu hinterfragen, warum man das dringende Bedürfnis verspürt, mal wieder etwas hinauszuposaunen, völlig egal ob es zum derzeitigen Diskurs passt oder nicht, konventionell ist oder nicht. Ich denke, das Bedürfnis nach jedweder Form von Aufmerksamkeit spielt in der heutigen Gesellschaft eine zu große Rolle.

  • Muss man eigentlich seine Meinung unbedingt überall kundtun - gerade wenn man antizipieren könnte, dass es zu entsprechenden Reaktionen kommen könnte?

    [...]

    Darum geht es ja zum Teil gar nicht mehr. Der derzeitige Stand ist, dass aktiv nach Verfehlungen (unter Zuhilfenahme maximal missgünstiger Interpretation des Gesagten) gesucht wird, um anschließend jemanden zu diskreditieren. Da werden dann auch gern mal Äußerungen von vor 20 Jahren ausgegraben. Das ist die bewährte alte politische Schmutzkampagne, die durch die technischen Möglichkeiten in der Breite angekommen ist.


    Außerdem: Wenn ich im Cafe am Nachbartisch ein Gespräch mithöre, in dem die Beteiligten "unkonventionelle" (aber nicht strafbare) Meinungen äußern, muss/soll/darf ich mich dann einmischen? Ist das dann nicht genauso Geltungssucht und Virtue Signalling?

  • Schokozwerg ich gebe dir vollkommen Recht:


    Ich bin schwul, ein Mann, der auf Männer steht. Und alle meine Freunde sehen das genauso. Ich kenne niemanden persönlich, der diese Verrenkungen mit als was auch immer identifizieren etc. mitmacht oder Ernst nimmt...

  • Meines Verständnisses nach genau das. Ich bin allerdings kein Jurist.

    Bin ich auch nicht, aber ich meine mal als ganz groben Unterschied gelesen zu haben, dass Meinungsäußerungen sehr weitreichende Freiheit genießen, Tatsachenbehauptungen aber nicht. Beispiel:


    Du bist ein Betrüger und Dieb -> Tatsachenbehauptung

    Ich finde, dass du ein Betrüger und Dieb bist -> Meinung

  • zu Beginn war ich ein großer Fan der "Cancelculture", weil es einfach unfassbar viele Menschen gibt, die unter dem Deckmantel der "wird man ja wohl noch sagen dürfen"-Meinungsfreiheit, die Freiheit von anderen beschneiden. Ich finde es gut, dass offensichtlich menschenfeindliche Sprechakte bestraft werden, doch artet das Ganze irgendwie aus.


    Daher bin ich dabei, meine Position dazu zu verändern; "Epiphanie" dafür war - wie schon irgendwo mal erwähnt - die Tatsache, dass Transrechte häufig mit Frauenrechten kollidieren. Augenscheinlich erkennbar an den "16 Jahre als Mann existierende Transfrau nimmt an sportlichen Wettbewerben im Frauenbereich teil"-Beispielen, bei denen lustigerweise Martina Navratilowa - selbst jahrzehnte schon Vorkämpferin von LGBT ins Kreuzfeuer ihrer KritikerInnen. Es gibt aber auch noch viele andere Beispiele, bei denen es nicht nur um Sport geht, sondern echt jemand verletzt wird: Anscheinend ist es in einigen Staaten der USA mittlerweile üblich, minderjährigen pubertierenden Mädchen, die fühlen, Transjungs zu sein, ohne Wissen/Erlaubnis der Eltern, Hormone zu verabreichen, die ihre Entscheidung unumkehrbar machen. Ärzte dürfen das Ansinnen garnicht hinterfragen, weil ja das Anzweifeln an sich schon verletztend ist.


    Tatsächlich gibt es eben Menschen, deren Hauptaufgabe im Leben es scheint, sich im Internet aufzuregen und irgendwelche spontan dahin gesagten oder nur anähernd vom liberal-kapitalistischen Meinungsbild abweichenden Äußerungen aufzuspüren - lustigerweise sind das häufig in erster Linie weise CIS, die vermutlich ihre Privilegien irgendwie ausgleichen wollen, in dem sie sich voll reinhängen. Identity Politics ist ein schönes Betätigungsfeld für Personen, die sonst an an den Ungerechtigkeiten der kapitalstischen Weltordnung nichts verändern wollen. Dass diese liberale Position mehrheitsfähig ist, ist mE überdies ein Irrtum - Menschen denken sehr unterschiedlich und äußern sich eben auch nicht immer zu jedem Pups.


    Darüber hinaus ist diese apodiktische Festschreibung von was man darf und was nicht, aus erkenntnistheoretischer/ ethischer Sicht geradezu eine Bankrotterklärung. Selbst Habermas - der ist ja wohl ideologisch unverdächtig (obwohl, wenn schon Thierse es nicht mehr ist, muss Jürgen sich vermutlich warm anziehen..) - würde sogar extreme Meinungen in seiner Diskurstheorie zulassen. Unsere Demokratie beruht nicht nur auf dem Gedanken, dass jedeR sagen darf, was er/sie will, sondern auf dem Gedanken, dass Lösungen zu Problemen besser werden, wenn möglichst viele Perspektiven einfließen. ich behaupte, man hat die Gesellschaft nichts davon, wenn offiziell die Position von Gender- und Identitypolitics-Studierenden und Profis gilt, es darunter aber brodelt. Das politische Versagen um Vielfalt in der Meinung bei der Flüchtlingskrise, hat uns nicht nur eine starke rechte Partei im Bundestag beschert, sondern darüber hinaus Sprengstoff für Jahrzehnte.


    Ich würde mir mehr Foren (also jetzt nicht nur Internet) wünschen, in denen freier und gesitteter Meinungsaustausch möglich ist. Gleichzeitig versuche ich an mir selbst zu arbeiten, und lese Positionen, die nicht meine eigenen sind, um aus meiner Blase herauszukommen. Mein Tipp bei unsäglichen Kommentaren der Konservativen (die ja leider nie ohne Seitenhiebe auskommen): Seitenhiebe ignorieren und die Diagnose vom Heilmittel trennen. Es ist nämlich durchaus möglich, dass eine Beobachtung von Jordan Peterson oder Tychis Einblicke richtig ist; deswegen muss man ja nicht die vorgeschlagene politische Aktion teilen. Eeine Diskreditierung der Position an sich, halt ich nicht für zielführend. Ich denke, wir müssen alle mal wieder ein bisschen mehr Kontroversität aushalten lernen.

  • Darum geht es ja zum Teil gar nicht mehr. Der derzeitige Stand ist, dass aktiv nach Verfehlungen (unter Zuhilfenahme maximal missgünstiger Interpretation des Gesagten) gesucht wird, um anschließend jemanden zu diskreditieren. Da werden dann auch gern mal Äußerungen von vor 20 Jahren ausgegraben. Das ist die bewährte alte politische Schmutzkampagne, die durch die technischen Möglichkeiten in der Breite angekommen ist.


    Außerdem: Wenn ich im Cafe am Nachbartisch ein Gespräch mithöre, in dem die Beteiligten "unkonventionelle" (aber nicht strafbare) Meinungen äußern, muss/soll/darf ich mich dann einmischen? Ist das dann nicht genauso Geltungssucht und Virtue Signalling?

    Ist es nicht im Grunde beides?

    Das Mitteilungsbedürfnis auf der einen Seite und das "Vernichtungsbedürfnis" auf der anderen Seite?

    Beides ist ganz gruselig.

    Was das Gespräch am Nachbartisch angeht, so lasse ich das eigentlich immer unkommentiert, sofern man nicht über meine Familie oder mich spricht. Da hält sich meine Geltungs- oder Erziehungssucht in Grenzen.

    Gruß
    #TheRealBolzbold

    Ceterum censeo factionem AfD non esse eligendam.

  • Ja, du und ich sehen das so.

    Aber ich halte uns beide auch nicht für einen Teil der Cancel Culture. Und deren Ausmaße machen mich unruhig im Hinblick auf die Welt, in der meine Kinder leben sollen.



  • Was das Gespräch am Nachbartisch angeht, so lasse ich das eigentlich immer unkommentiert, sofern man nicht über meine Familie oder mich spricht. Da hält sich meine Geltungs- oder Erziehungssucht in Grenzen.

    Ich hatte zuletzt im Bus die Situation, dass eine ältere Dame mit ihrem Sitznachbar über die "schmarotzenden Schwarzen" sprach. Gemeint war die junge Mutter, die 3 Meter entfernt mit Kinderwagen stand (das sagte zumindest der Zeigefinger). Da fühlte ich mich tatsächlich genötigt, einzuschreiten. (Leider nicht als Erster, wenige Sekunden vorher hatte eine andere junge Frau ebenfalls die Faxen dicke.)

    Was ich im Nachgang bemerkenswert fand: Sofern sie keine AfD-Wählerin ist, aber bei der Kommunalwahl vergangenes Jahr wählen gegangen ist, hat sie sehr wahrscheinlich das Kreuz bei mir gemacht. Gibt einem zu bedenken.

Werbung