Gymnasiallehramt studieren, ohne das Gymnasium besucht zu haben?

  • Guten Tag, bin ganz neu hier im Forum :)

    Ich habe schon seit langem ein Lehramtsstudium im Auge. Ich bin 24 Jahre alt und komme aus einer ländlichen Region im Raum BaWü/Bayern. Im Besonderen interessieren mich die Fächer Englisch und Sozialkunde. Als Erweiterungsfächer kämen noch Physik oder Geographie in Frage. Die Krux an der Sache ist, dass ich selbst nicht das Gymnasium besucht habe. Das Fach Sozialkunde / Politik hatte ich auch nie. Ich habe nach einer absolut grottigen Mittleren Reife an einer Brennpunktschule keine andere Wahl mehr gehabt, als ein privates Berufskolleg (BaWü) zu besuchen. Die schulische Ausbildung dort war anforderungstechnisch ein Witz. Die meisten Schüler*innen aus der Klasse hatten entweder einen Realschulabschluss, der keine anderen Möglichkeiten mehr offen lies, oder hatten sich nach der Hauptschule weiterqualifiziert. Das soll nicht abwertend gemeint sein, ich möchte nur den Niveauunterschied zur gymnasialen Oberstufe hervorheben. Die Lehrer*innen kamen aus Osteuropa, sprachen nur gesprochenes Deutsch und hatten kein Referendariat/2. Staatsexamen absolviert. Entsprechend die Unterrichtsqualität. Ich hatte letztlich aber auf dem Papier (und nur da) die Fachhochschulreife und habe anschließend die Deltaprüfung absolviert, um Universitäten in Baden-Württemberg besuchen zu können.

    Ich hatte damals dann zwei Wunschstudiengänge, Lehramt und Jura. Beide waren mit der Deltaprüfung nicht erreichbar. Den Bachelor habe ich auch deswegen absolviert, um anschließend ein Zweitstudium machen zu können (Der Weg zum Abitur hätte mehrere Jahre zusätzlich in Anspruch genommen)

    Danach habe ich an der Uni Politikwissenschaft in Deutschland, England und den USA studiert und war Trainee in einer EU-Institution, bevor ich dauerhaft in der öffentlichen Verwaltung eingestiegen bin, um mir das Zweitstudium zu finanzieren.

    Nachdem Jura mittlerweile interessenbedingt rausgefallen ist, bleibt mir nun noch das Lehramtsstudium. Bildung ist für mich eine Herzensangelegenheit. Ich habe über einige Gymnasiallehrer*innen in der Familie eine sehr gute Vorstellung davon, wie der Arbeitsalltag aussieht. Politik habe ich als Fachwissenschaft studiert und kann mir das ganze Studium - mit Ausnahme von ein paar Credits in Didaktik - mit sehr guten Noten anrechnen lassen. Englisch spreche ich auf dem Niveau C2 und ich bin von Literatur und Kultur sehr begeistert, und auch hier kann ich mir ein paar Kurse anrechnen lassen. Über das Studium selbst mache ich mir eigentlich gar keine Sorgen. Das will ich zum nächsten Wintersemester in Angriff nehmen. Vermutlich in Rheinland-Pfalz.

    Ich freue mich sehr auf den Lehrberuf, ich habe schon einige Male ehrenamtlich Vorträge im Bereich politische Bildung an Schulen gehalten und mache auch derzeit auf der Arbeit Schulungen von Auszubildenden und Studierenden. Wie die Arbeit als Lehrer außerhalb der Unterrichtszeit aussieht, sehe ich an meiner Familie. Ich habe da keine rosarote Brille auf, ich weiß, wie hart der Beruf sein kann. Ich möchte an Gymnasien unterrichten, weil ich es fachwissenschaftlich deutlich spannender finde als Sek1 und ich ältere SuS bevorzuge. Auch Lehramt an Beruflichen Schulen kann ich mir gut vorstellen, da gibt es in RLP und auch BaWü ein entsprechendes Ref für Absolventen allgemeinbildender Fächer mit etwas Berufserfahrung. Da sind die Einstellungschancen laut Prognosen auch besser.


    Eigentlich wäre alles super, da ist nur dieses latente Zweifeln aufgrund meiner eigenen Schulzeit. Stoff beibringen, den man selbst nie hatte? In einem System unterrichten, das man so gar nicht kennt? (Das träfe natürlich nicht auf die Option LA BS zu). Ich habe keine Erfahrungen mit Studienfahrten, Leistungskursen, Seminararbeiten etc.


    Denkt ihr, es besteht die Gefahr, dass man sich deswegen später an der Schule nie so ganz "heimisch" fühlen kann? Das man das nur richtig können kann, wenn man es selbst mal durchlebt hat? Die Schulpraktika werden da bei der Orientierung sicher helfen, aber ich dachte, ich frage mal bei Profis, die nach Abitur, Studium und Berufserfahrung das eventuell ganz gut beurteilen können.

    Vielen Dank für eure Beiträge! :)

  • Ich war nie selbst auf einer Realschule als Schülerin und unterrichte dennoch dort, Lehrkräfte für Sonderpädagogik waren sogar nur höchst selten selbst SuS ihrer gewählten Schulform, das spielt also wirklich keine Rolle. Ich finde, dein Werdegang klingt saumäßig spannend, sehr zielgerichtet und reflektiert. Das wird es dir sicherlich erlauben, dich in alles einzuarbeiten, was dir aus persönlicher Erfahrung nicht bereits bekannt ist. Sich in neue Bildungpläne einzuarbeiten gehört im Übrigen generell zum Beruf, ganz unabhängig von der eigenen Schullaufbahn. Die Dinger sind schließlich nicht in Stein gemeißelt und ändern sich ca.alle 10 Jahre.

    Wenn du dir sehr unsicher bist, ob du dich mit Schulform anfreunden wirst können oder doch zum Ref an die beruflichen Gymnasien gehen solltest, dann versuch vorab zu hospitieren an einem allgemeinbildenden und einem beruflichen Gymnasium oder schau, dass du im Studium beide Schulformen kennenlernst.

    "Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule." Domenico Squillace

  • Kleiner Wehmutstropfen als Nachtrag : Englisch - PoWi sind zumindest in BW keine gesuchten Fächer am Gymnasium, die Fachkombi schmälert deine Einstellungschancen also leider ganz erheblich. Evtl. solltest du auch das mitbedenken bei deiner Entscheidung.

    "Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule." Domenico Squillace

  • Was du schreibst, klingt doch sehr reflektiert. Ich unterrichte von den Inhalten meines "Sozialkunde LKs" (RLP) jetzt in NRW ("Sowi/Wirtschaft") nur wenig. An der Uni hatte ich noch weniger von dem, was ich jetzt unterrichte. Wir studieren ja weniger die Inhalte, als die Fähigkeit, uns diese auch eigenständig zu erschließen und dann didaktisch aufzubereiten ;-). Was Berufsaussichten etc. betrifft lohnt sich sicherlich eine sorgfältige Analyse, aber bzgl. deiner anderen Zweifel wäre ich sehr entspannt!

    There are only 10 sorts of people - Those who know binaries and those who don't.

  • Ich unterrichte am Berufskolleg, obwohl ich da nie war. Das ist kein Hindernis und sonst hätten Förderschulen und Hauptschulen wohl sonst kaum Lehrer.


    Aber mal eine Frage: warum lieber Gymnasium und nicht Berufskolleg, Berufsschule oder wie das in dem BL heißt? Das wäre doch die Chance Menschen die an der gleichen Stelle sind wie du damals Mut zu machen und ihnen eine Chance zu geben.

    Vor allem sagst du ja selbst, dir liegen die Älteren mehr.

    Only Robinson Crusoe had everything done by Friday.

  • Also erstmal danke für die ganzen Rückmeldungen. Ja, Berufliche Schulen sagen mir eigentlich genauso sehr zu, da reizt mich die Diversität der ganzen Schulformen und Klassen . In Rheinland-Pfalz sind im Studium Gymnasium/Realschule+ soweit ich mich gerade richtig erinnere vier Praktika vorgeschrieben, da werde ich auf jeden Fall ein paar Schulformen durchprobieren. Hatte ja auch ein BS Referendariat als interessante Option angesprochen.

    Was die Einstellungschancen angeht, da hab ich mich in den letzten Monaten wirklich durch alle Bedarfsprognosen der Länder gewälzt, die so im Umlauf sind. Ich glaube es gibt keinen Raum mehr für zusätzliche Analysen :D Mir ist also durchaus bewusst, dass es gerade im Süden in manchen Fächerkombinationen am Gymnasium eher düster aussieht.
    In Bayern soll es ab 2025 und in den Folgejahren aufgrund der Umstellung auf G9 angeblich wieder deutlich besser aussehen. Darauf verlassen will ich mich aber nicht. An Beruflichen Schulen in BaWü ist die Situation mit allgemeinbildenden Fächern wohl auch "günstig".

    Das BS Referendariat gibt's in RLP ab einem Jahr Berufserfahrung und qualifiziert dort zusätzlich für Gymnasien. Das Schulsystem gefällt mir dort auch, also eigentlich ist es schon fast mein "Wunsch-Bundesland". Aber generell bin ich geographisch flexibel und verändere mich auch sehr gerne, von daher denke ich, dass sich in dieser Hinsicht schon ein Weg auftun wird :)

    • Offizieller Beitrag

    Ich hatte genau genommen keins meiner (4) Fächer in der Schule (2 gänzlich unbekannt) und war auch nicht am (deutschen) Gymnasium in der Schulzeit. Studiert habe ich Sozialkunde in RLP, Wirtschaft und Internationale Beziehungen als ‚abgeschwächte Gebiete‘ (im Vergleich zu den anderen, Wirtschaft sowieso), hab mein Ref in NDS im Fach PK/Wirtschaft gemacht und durfte ein halbes Jahr Wirtschaftspolitik im LK unterrichten, und dann in IB weiter.


    Ich hab an Gyms und Gesamtschulen unterrichtet (auch eine unbekannte Form), in verschiedenen Formen mit unterschiedlichen Regeln (Klassenarbeiten, SoMi-Note, Beteiligung der Eltern, Gewichtung der Fächer, usw…)

    Man lernt alles und das ist das Spannende.


    Und übrigens: das Gymnasium deiner Schulzeit (zeitlich) existiert auch nicht mehr unbedingt.

  • Es ist keine Grundvoraussetzung selbst ein Gymnasium besucht zu haben um am Gymnasium Lehrer werden zu dürfen. Deine Vita hört sich aber generell eher nach einem Lehrer an Beruflichen Schulen an. ;) Ist das u.U. eine Option?

  • In Bayern soll es ab 2025 und in den Folgejahren aufgrund der Umstellung auf G9 angeblich wieder deutlich besser aussehen. Darauf verlassen will ich mich aber nicht.

    Besser so!

    Die Mutter der Dummen ist immer schwanger.

  • Stoff beibringen, den man selbst nie hatte?

    Wie die anderen schon schrieben, das ist kein Problem und passiert wohl jedem und jeder von uns immer mal wieder.

    Das man das nur richtig können kann, wenn man es selbst mal durchlebt hat?

    Das ist natürlich Quatsch. :) Nach der Logik dürfe es ja in den meisten Berufen nur Flachpfeifen geben: Onkologen, die selbst noch keine Krebstherapie hinter sich hatten; Psychotherapeuten, die noch nie suizidgefährdet waren; Baggerfahrerinnen, die erst in der Ausbildung zum ersten Mal am Steuer eines Baggers sitzen; ...


    Ich sage, go for it, was du nennst sind alles keine Hinderungsgründe. :)

  • Nach der Logik dürfe es ja in den meisten Berufen nur Flachpfeifen geben: Onkologen, die selbst noch keine Krebstherapie hinter sich hatten; Psychotherapeuten, die noch nie suizidgefährdet waren; Baggerfahrerinnen, die erst in der Ausbildung zum ersten Mal am Steuer eines Baggers sitzen; ...

    :lach: YMMD

    "Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule." Domenico Squillace

  • Psychotherapeuten, die noch nie suizidgefährdet waren

    Gut, das dürfte die Minderheit sein. Nach zehn Jahren Klinikschule im Bereich KJP kann ich Dich aber beruhigen: Einen mehr oder minder großen Dachschaden haben so gut wie alle Therapeuten.

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