Stottern und Lehramt

  • Ich frage mich gerade, ob es nicht reichlich bevormundend ist (gibt bestimmt irgendeinen schicken "-ism" dafür!), wenn "wir" als nichtstotternde Menschen stotternden Menschen Ratschläge zu ihrer Berufswahl geben wollen.

    Ich meine, ob jemand unter Stress zum Stottern neigt oder nicht, sollten doch die Betroffenen selbst am besten wissen.

    Hast du nicht geschrieben, wir sollen diskutieren? Finde Austausch immer ganz gut. Ich empfinde hier nichts als Bevormundung.

  • Gareth Gates war ein britischer Sänger (=sprachlastiger Beruf), der stotterte, aber nicht während des Singens. Ihm gelang es irgendwie, das Stottern während des Singens zu unterdrücken. Vlt. ist es in einzelnen Fällen auch analog im Lehrerberuf möglich. Auf dieser Annahme ein mehrjähriges Studium + Referendariat aufzunehmen, fände ich jedoch gewagt.

    Das ist ein recht verbreitetes Phänomen bei Menschen die Stottern. Offenbar hilft der Rhythmus und das Ineinanderfließen von Wörtern (anstelle von Pausen und deutlichen Worttrennungen), um bei stotternden Menschen verschiedene Hirnareale besser ansprechen zu können, die für Sprechakte benötigt werden. Das Phänomen lässt insofern meiner Kenntnis nach keine Rückschlüsse darauf zu, ob es möglich sein könnte auch im reinen Sprechen "Stolperer" zu umgehen oder zu überspringen/zu überbrücken. Nicht allen Menschen die stottern ist es möglich dies im reinen Sprechen mit therapeutischer Hilfe zu erreichen (oder dem zumindest nahe genug zu kommen, um die Berufswahl nicht zu begrenzen).

    "Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule." Domenico Squillace

  • Ich meine, ob jemand unter Stress zum Stottern neigt oder nicht, sollten doch die Betroffenen selbst am besten wissen.

    Das stimmt, aber dann würden sie hier nicht Lehrer*innen fragen, wenn sie deren Meinung nicht hören wollten.

  • Ich denke, es kommt stark darauf an, wie stark das Stottern ausgeprägt ist. Mein 10 Jahre jüngerer Cousin hat früher als Kind sehr stark gestottert mit Grimassieren dabei etc. Es war sehr schwer, ihm zuzuhören. Durch Atemtechniken und Sprechtechniken (weicher leiser Stimmeinsatz) hat er das als Jugendlicher irgendwann gut in den Griff bekommen, flüssig zu sprechen. Er arbeitet heute im Vertrieb einer großen Firma, reist auch ins Ausland, führt Verhandlungen auf Englisch usw. Wenn er ins Stottern gerät, scheint es ihm egal zu sein. Unter diesen Voraussetzungen hätte er auch Lehramt studieren können, denke ich. Meinem Mann war z.B. auf den ersten Familienfeiern, wo er ihn kennenlernte, nicht aufgefallen, dass mein Cousin stottert.


    Ein guter Freund meines Mannes hat leicht gestottert, was als Zuhörer nicht gestört hat, ihn hat das Stottern aber sehr belastet. In dem Fall würde ich unbedingt davon abraten als Lehrer zu arbeiten, wenn man das Stottern als Makel bei sich selbst empfindet.

  • Ich habe früher stark gestottert. Für solche Dinge gibt es Logopäden. Heute stottere ich nur noch leicht wenn ich aufgeregt/nervös bin. Ich habe dadurch in meinem Beruf kein Einschränkungen/Probleme.

  • Stottern hat eine große Spannbreite. Sowohl was die Primär- (Dehnungen, Blockaden, Wiederholungen) als auch die Sekundärsymptomatik (körperliche Mitbewegungen und Reaktionen, Vermeidungs- und Ausweichverhalten) und erst recht was die sozial-kommunikativen Folgen anbelangt. Manchen "Stotterern" (immerhin ca. 1 % der Bevölkerung) merkt man es im Alltag kaum an und sie können sich in Sprechberufen verwirklichen - beispielsweise der amtierende US-Präsident. Andere haben größere Probleme und suchen sich bewusst Jobs mit geringen Sprechanteilen. Es gibt auch im Erwachsenenalter Therapiemöglichkeiten, wenngleich weniger erfolgversprechend als im Kindesalter.

    Ich hatte zwei stotternde Kommilitionen in der Sprachheilpädagogik (übrigens sind viele der bekanntesten Stottertherapeuten selbst Stotterer gewesen). Der eine fühlt sich im Lehrerberuf sehr wohl. Der andere hat das Studium aufgrund negativer Erfahrungen in Praktika abgebrochen.

    Kurz: Es lässt sich nicht verallgemeinern. Wenn jemand Lehrer werden möchte und es sich selbst zutraut, würde ich ihm nicht wegen des Stotterns abraten.

  • Ich frage mich gerade, ob es nicht reichlich bevormundend ist (gibt bestimmt irgendeinen schicken "-ism" dafür!), wenn "wir" als nichtstotternde Menschen stotternden Menschen Ratschläge zu ihrer Berufswahl geben wollen.

    Aber es wurde doch danach gefragt.

    Und es wurden ja nur mögliche Bedenken oder Erfahrungen geäußert.

  • Ich finde die Beiträge (sowohl pro als auch Kontra) sehr bereichernd. Vielen Dank dafür. Sicherlich sehr hilfreich, die vielen Meinungen zu lesen.

    Werde meinem Schüler den Link mal weiterleiten.


    Es geht übrigens um "Berufsschullehramt im Bereich Elektrotechnik".

  • Ich finde die Beiträge (sowohl pro als auch Kontra) sehr bereichernd. Vielen Dank dafür. Sicherlich sehr hilfreich, die vielen Meinungen zu lesen.

    Werde meinem Schüler den Link mal weiterleiten.


    Es geht übrigens um "Berufsschullehramt im Bereich Elektrotechnik".

    Oh Gott, er soll bloß Lehrer werden. Mit E-Technik hat er schließlich eine Einstellungsgarantie- bundesweit. ^^

    "Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule." Domenico Squillace

  • Für solche Dinge gibt es Logopäden.

    Nee, so einfach ist es halt nicht....Solche Verweise haben immer so einen Touch von 'selbst schuld' - viele stotternde Menschen sind in entsprechender Therapie, aber...


    Ein Fachleiter macht mir wegen ganz leichtem Lispeln die Hölle heiß (andere FLs befragte ich, die bemerkten das gar nicht) - von wegen Sprachvorbild und so...Der FL erkrankte, sonst hätte ich ein echtes Problem gehabt (die aufgezwungene Sprachtherapeutin meine, da könne man wenig machen, weil es bei mir vermutlich mit Gehör/Gehirn zusammenhängen würde - bin übrigens nie wieder auf die minimalste Sprachstörung angesprochen worden)


    Es kommt vielleicht auch ein bissel aufs Lehramt und das Fach an - Deutsch und Grund- oder Förderschule wäre sicher eher ungünstig

  • Oh Gott, er soll bloß Lehrer werden. Mit E-Technik hat er schließlich eine Einstellungsgarantie- bundesweit. ^^

    Ich wollts grad sagen. Und gerade bei den Berufsschülern ist, bei aller Spätpubertiererei, auch weniger mit Spott oder ähnlichem zu rechnen. Die sind da echt teilweise weiter als manche "alten".


    Nachtrag: Ich hatte einen Mitreferendar, der ehemaliger Stotterer war. Er hat als "Ersatzhandlung" (ich weiß nicht wie man das wirklich nennt) nach fast jedem Satz mit der Zunge "geklickt".

    Er hat den Schülern offen kommuniziert, was es damit auf sich hat, hatte null Probleme mit den Jungs und war sehr beliebt.

  • Letzte Aktivität des Users: 2011.

    der antwortet nicht mehr.

    Vielleicht hat er das Thema je noch abonniert und bekommt eine Mail dazu, dass es in seinem Thread weitergeht.

  • Ein Fachleiter macht mir wegen ganz leichtem Lispeln die Hölle heiß (andere FLs befragte ich, die bemerkten das gar nicht) - von wegen Sprachvorbild und so...Der FL erkrankte, sonst hätte ich ein echtes Problem gehabt (die aufgezwungene Sprachtherapeutin meine, da könne man wenig machen, weil es bei mir vermutlich mit Gehör/Gehirn zusammenhängen würde - bin übrigens nie wieder auf die minimalste Sprachstörung angesprochen worden)

    Nichts für ungut, aber:


    1. ist "Lispeln" (ich nehme an, es ist ein Sigmatismus interdentalis gemeint?) keine Sprachstörung, sondern eine Sprechstörung,

    2. sehe ich das tatsächlich eher als Problem für den Lehrerberuf als Stottern. Gerade bei Grund- oder Förderschule oder Deutsch als Fach (oder auch Fremdsprachen).

  • (...)

    2. sehe ich das tatsächlich eher als Problem für den Lehrerberuf als Stottern. Gerade bei Grund- oder Förderschule oder Deutsch als Fach (oder auch Fremdsprachen).

    Kannst du das begründen? (Bestimmt, aber nachdem mir nicht direkt ersichtlich ist, um welchen Aspekt es bei deiner Bewertung gehe könnte, fände ich es interessant, das besser zu verstehen, nachdem du einer der wenigen hier bist, der diese Phänomene auch aus einer sprachheilkundlichen Perspektive zu bewerten vermag. :) )

    "Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule." Domenico Squillace

  • Kannst du das begründen? (Bestimmt, aber nachdem mir nicht direkt ersichtlich ist, um welchen Aspekt es bei deiner Bewertung gehe könnte, fände ich es interessant, das besser zu verstehen, nachdem du einer der wenigen hier bist, der diese Phänomene auch aus einer sprachheilkundlichen Perspektive zu bewerten vermag. :) )


    Ja, gerne.


    Also zunächst einmal gilt für den Sigmatismus wie für das Stottern (und fast jedes Störungsbild): Erstens: Es gibt ein breites Spektrum zwischen kaum zu erkennen bis stark die Verständlichkeit einschränkend. Zweitens: Es gibt Therapiemöglichkeiten für jede Altersgruppe.

    Insofern würde ich auch niemanden pauschal wegen des Sigmatismus vom Lehrerberuf abraten.


    Wenn ich trotzdem teilweise Zweifel habe, dann habe erst einmal natürlich primär den Unterricht bei uns im Blick. Wir versuchen im therapieimmanenten Unterricht, SuS auch bezüglich ihrer Aussprachestörungen zu fördern. Gerade die Frikative sind da bei vielen Schülern ein Schwerpunkt. Das wird natürlich schwierig, wenn ich als Lehrkraft die Laute schon nicht ganz korrekt bilden kann, das den Kindern beizubringen.


    Aber auch an Grundschulen wird z. B. bei den Buchstabeneinführungen ja viel mit dem Mundbild gearbeitet. Da ist es natürlich problematisch, wenn der Lehrkraft beim Vormachen die Zunge zwischen die Zähne rutscht. Generell sind vor allem SuS mit Lernschwierigkeiten beim Schriftspracherwerb auf eine deutliche und klare Artikulation der Lehrkraft angewiesen.


    Natürlich ist ein Sigmatismus nicht "ansteckend" in dem Sinne. Allerdings erleben wir in der Praxis immer wieder Kinder, bei denen die Eltern ähnliche Sprach-, Sprech- oder Kommunikationsauffälligkeiten haben. Ich würde nicht ausschließen wollen, dass das auch bei einem Lehrer, der die Kinder in Grund- oder Förderschule als Klassenlehrer viele Stunden in der Woche unterrichtet, möglich ist.


    Es gibt wohl Untersuchungen, dass bei Lehrkräften mit Stimmstörungen es den Kindern schwerer fällt, im Unterricht zuzuhören und sie sich nachher inhaltlich an weniger erinnern als bei Lehrkräften mit gesunder Stimme (und auch für die stimmliche Entwicklung der SuS soll es negativ sein). Auch hier könnte ich mir einen ähnlichen Effekt bei einem starken Sigmatismus vorstellen.


    Beim Fremdsprachenunterricht denke ich primär an das Englische, wo es neben /z/ und /s/ ja tatsächlich auch /ð/ und /θ/ als Phoneme gibt, die (inter)dental gebildet werden. Wenn die Artikulation der Lehrkraft, von der die SuS die Sprache ja vor allem hören, unklar ist, kann das m. E. auch zu Schwierigkeiten führen.


    Nachvollziehbar? Wie gesagt: Das soll nicht heißen, dass ich Leuten, die lispeln, davon abrate, Lehrer zu werden. Aber der Aspekte sollte man sich bewusst sein. Für Berufsschullehramt für Elektrotechnik spielen die meisten Punkte wohl eine eher geringe Rolle.

  • Ja, absolut nachvollziehbar und danke für deine ausführliche Erläuterung Plattenspieler .:rose:


    (Kleine persönliche Anekdote zum Thema Aussprache: Im Ref wurde bei meinem ersten Unterrichtsbesuch (von einem sehr stark Dialekt sprechenden Fachdozenten) im Protokoll vermerkt beim inhaltlichen Feedback, ich spräche "ausgeprägtes Hochdeutsch". Auch in den Protokollen der Ausbildungsgespräche wurde das später von der Schulleitung vermerkt. Nicht negativ, aber irgendwie auch nicht posiitv gemeint, dazu war es denen, die das vermerkt wissen wollten selbst zu fremd, umso mehr, als ich außerhalb des Unterrichts durchaus auch manchmal Dialekt spreche (und mein "Hochdeutsch" tatsächlich natürlich dialektal eingefärbt ist). Neue Schule nach dem Ref, erste Stunde Klasse 8, 90% der SuS in der Klasse haben einen Migrationshintergrund oder sind ausländischer Herkunft (einige VKL-Leute in der Klasse), Schülerfeedback am Ende der Stunde: "Sie haben so arg Deutsch gesprochen, also so richtig, wenn Sie wissen, was ich meine, nicht so, wie bei anderen Leuten. Aber das ist voll gut, ich konnte sich richtig gut verstehen und wusste, wie ich es aufschreiben muss.")

    "Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule." Domenico Squillace

  • Gareth Gates war ein britischer Sänger (=sprachlastiger Beruf), der stotterte, aber nicht während des Singens

    Da muss ich doch spontan an Scatman John denken, der hat sein Stottern auch durch singen überwunden … und auch einen Nummer-1-Hit daraus gemacht, den ich damals in den 90ern rauf und runter gehört habe 🙂


    Tatsächlich habe ich als Kind auch leicht gestottert, aber im Laufe der Adoleszenz ist es ganz verschwunden, ohne Logopädie. Allerdings wurde mir gesagt, dass ich manchmal minimal längere Sprechpausen mache als üblich - mir selber fällt das nicht auf, aber vielleicht ist das noch ein Überbleibsel 🤷🏻‍♂️

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