Erstklässler heute... tja.

    • Offizieller Beitrag

    es gab gute soziologische Texte (habe ich danach aber nicht mehr verfolgt), (zb. Cassel, französischen Soziologe), die eben aufzeigten, dass "wir" als Gesellschaft froh über diese "Ränder" sind. Sie dienen als Abschreckung. "Wenn ihr nicht gut in der Schule seid, endet ihr auch so und bekommt Hartz IV"


    Ist zwar ganz nett und praktisch, aber wenn wir uns nicht schon aus moralischen und menschlichen Gründen des Problems annehmen (ich empfehle Rawls Gerechtigkeitsschleier, wenn man sich eine solche Frage stellt), könnten wir einfach mit harten Fakten anfangen: Diese Kinder werden erwachsen und werden NICHT in die Sozialkassen einzahlen. Und da wir in einem Sozialstaat leben, werden sie nicht in der Gosse verhungern, sondern etwas vom Staat bekommen. Es ist im Interesse vom Staat, also zu investieren, es ist in UNSEREM Interesse, dass jemand in die Rentenkassen einzahlt (und komme mir hier keine*r mit "aber ich kriege eh eine Pension".)

    Einerseits werde ich - unterschwellig oder nicht - angefeindet, dass ich als Kinderlose meinen Beitrag zur Gesellschaft nicht leiste, schließen sichern die Kinder unsere Arbeitsplätze, aber es gilt wohl nur für die braven, gut erzogenen Beamtenkinder des Bildungsbürgertums? (wo wir wieder bei den NRW-Kinderzuschläge sind. Kinderförderung ja, aber für die Beamten. Ach, ich schweife ab...)

    Wer die gesellschaftlichen Codes nicht kennt (weil er/sie zugewandert ist und/oder weil er in seiner Familie sie nicht gelernt hat), agiert nach den ihnen bekannten Regeln. Den Kreislauf gilt es zu durchbrechen. Da wir uns hoffentlich einig sind, dass wir die Kinder nicht aus den Familien rausnehmen und alle in Erziehungsinternate schicken, müssen wir den Eltern die Unterstützung bieten, damit die Kids weder unter der Unwissenheit, noch unter der Unfähigkeit, noch unter dem bösartigen Wille der Eltern leiden.

  • Dem stimme ich absolut zu. Ich gehe allerdings gleichzeitig von einer gewissen Bequemlichkeit der betroffenen Klientel aus, der nur mit Arsch versohlen beizukommen ist.

  • "Erlernte Hilflosigkeit", so nannte man das in unsrem Studium. Es ist eine Mischung aus Bequenlichkeit und Unwissen/Dummheit. Ehrlicherweise muss jeder zugeben, dass er viele Haltungen seiner Eltern übernimmt, so machen das dann auch unsre Schüler. In meinem Elternhaus zB ist es normal, dass man sich politisch engagiert, Geld spendet, viel liest und Kulturreisen unternimmt. So habe ich das als Kind erlebt, so mache ich das heute mit meinen Kindern. Die Eltern meiner Schüler machen nix, da haben sich schon deren Eltern nicht um sie gekümmert und so leben das die heutigen Eltern weiter. Da hilft nur frühzeitig ansetzen, wie icke schon schrieb. Sonst werden Strukturen erlebt und erlernt, die nur noch schwer rauszukriegen sind.

    Die Eltern in die Pflicht zu nehmen halte ich für ein sehr, sehr schwieriges Unterfangen. Wenn das Kind keine Buskarte bekommt, weil die Muddi den Detuschkurs nicht besucht, dann kommt das Kind halt nicht zur Schule, da werden passende Ärzte gesucht, die Atteste ausstellen, da werden Kinder unentschuldigt nicht geschickt und die Polizei ist machtlos (die Schule sowieso). Am Ende wird vielleicht das Kindergeld gekürzt oder gestrichen, da schickt man das Kind wieder 2 Wochen, dann bekommen sie wieder Kindergeld. Dann kommt es wieder nicht und die Maschinerie muss erst wieder in Gang gesetzt werden. Und leiden tut nur das Kind drunter, das dann genau diese Strukturen wieder weitergibt. Eine endlose Kette. Es hilft nur, frühzeitig anzusetzen. Wie icke schon schrieb. Wäre allemal günstiger als Hartz4 oder wie das dann heißt.

    Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, dass man sie ignoriert.

    Aldous Huxley

    • Offizieller Beitrag

    Dem stimme ich absolut zu. Ich gehe allerdings gleichzeitig von einer gewissen Bequemlichkeit der betroffenen Klientel aus, der nur mit Arsch versohlen beizukommen ist.

    ja, den Reflex habe ich privat auch immer wieder.
    ABER ich weiß auch, dass Bequemlichkeit meistens nicht bösartig ist. Man arrangiert sich auch mit gewissen Situation bzw. hat bestimmte Sachen internalisiert.
    Ich will nicht wissen, wo ich heute wäre, wenn ich alles nur gemacht hätte, was meine Eltern für "normal" hielten. (Schule war nie ein Problem, das gehört zu deren Lebenshorizont und sie haben eben sehr gut internalisiert "uns geht es nicht prima, weil wir nicht supi waren, ihr werdet es besser machen". Aber: es gab viele Sachen, die "Leute wie wir" nicht machen. und die habe ich gemacht. und hätte ich nicht sehr viel Glück im Leben gehabt, wäre ich fantastisch auf die Nase gefallen und hätte also gelernt: bleib, wo du bist, Anstrengung und Rauskommen lohnt sich auf keinen Fall. Ich würde jetzt Kids in einer Pariser Banlieue großziehen, und denen erklären, dass die Straße am Ende der Großsiedlung ihr Horizont ist.

    Und stattdessen wohne ich in einem Stadtviertel, der ganz okay ist (sehr gemischt), aber wo ich NICHT hingezogen wäre, wenn wir Kinder geplant hätten. Weil die Grundschule eben nicht die beste der Stadt ist (vorsichtig ausgedrückt, Sozialindex 5). Wir würden 3km weiter wohnen, wo die Welt in Ordnung ist und der Sozialindex bei 1 oder 2 ist (ich stehe immer noch unter Schock meiner Entdeckung letzte Woche). Die Kids in einer Grundschule mit Sozialindex 5 oder 8 haben doch kaum eine realistische Chance, neben den Kids der Grundschule mit Sozialindex 1 oder 2 in der 5. Klasse nebeneinander zu sein.

  • laleona: Eigentlich widerspricht das all dem, woran ich im Leben glaube, nämlich, dass Kinder gerade nicht einfach die Verhaltensweisen ihrer Eltern übernehmen, sondern durch Vergleich mit Erfahrungen aus ihrer sonstigen Lebenswelt (Peers, Medien) erkennen, wenn diese problematisches Verhalten aufzeigen und sich bewusst im Rahmen ihrer Möglichkeiten gegen dieses auflehnen. Nur weil Mama meinte "Ach, Mathe, das konnte ich nlch nie." heißt das ja nicht, dass ich Zahlen nicht voll cool finden, in der Schule Rechenaufgaben mit Begeisterung lösen und später einen Job im MINT-Bereich ergreifen kann.

  • Aber dazu müssen sie doch erstmal in der Schule ankommen und ich kann dir aus Erfahrung sagen, dass ein Erstklässler, der morgens alleine aufstehen muss, eben nur ab und an oder manchmal auch später ankommt. Und dann eben auch ohne Frühstück, ohne Essen usw. und das begründet damit, dass die Mama eben nicht aufgestanden ist. Und sage mir nicht, das muss dann ans Jugendamt. Ja, ist es schon, der Großvater hat das Sorgerecht, hilft nun aber scheinbar gar nicht. Klar werden wir auch das weiter verfolgen, aber aktuell hilft eben nur, das Kind mit Essen und Getränken zu versorgen (Mittagessen ist ja glücklicher Weise kostenlos bei uns) und sich zu freuen wenn er da ist und ihn dafür zu loben. Dann schafft er es evtl. auch noch etwas öfter, aber ich finde, das ist für einen Erstklässler schon eine sehr schwierige Sache.


    Achso, ja, wenn er ankommt, merkt er, dass es nicht normal ist, schämt sich dann aber teilweise dafür, so dass er sich nicht traut um etwas zu Essen zu fragen (oder einfach mit der ersten Gruppe außerplanmäßig mitzugehen), sondern steht dann lieber irgendwann mit hängendem Kopf vor mir und gesteht kleinlaut, dass er so einen Hunger hat und sich so nicht konzentrieren kann.

  • Eigentlich widerspricht das all dem, woran ich im Leben glaube, nämlich, dass Kinder gerade nicht einfach die Verhaltensweisen ihrer Eltern übernehmen,

    Das ist doch Grundwissen, dass man natürlich Haltungen und Meinungen der Eltern übernimmt. Jeder fühlt sich als großer Revolutionär, weil er Dinge anders macht als seine Eltern, aber im Großen und Ganzen macht man es genau so, wie man es von zuhause gelernt hat. Ich inklusive.

    Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, dass man sie ignoriert.

    Aldous Huxley

  • Ich lese da leider zu wenig "Die Eltern müssen..." bei dir raus.

    Könnte daran liegen, dass ich bestimmte Eltern der Erstklässler oder Grundschüler vor Augen habe, bei denen „Zettel rausgeben“ gar nichts bringt, Hausbesuche mache ich nicht mehr, Elterngespräche führe ich hier häufiger, aber bei denen „Die Eltern müssen…“ abprallt, weil die Eltern wirklich nicht in der Lage sind.


    Ich weiß, dass ich fordern kann, so viel ich will. Die Gespräche führt man durchaus, aber Anträge stellen ist für diese Familien zu kompliziert und die Kinder bekommen die notwendige Hilfe nicht. Da überlegt man als GS-LuL einmal mehr, ob man die Anträge mit der Familie ausfüllt, z.B. damit die I-Hilfe im Unterricht ankommt - eigene Mehrarbeit für anschließende Entlastung.

    Anders der studierte Vater mit Migrationshintergrund, der uns sehr dreist die Tür einrennt und versucht, uns gegenseitig auszuspielen, bis er hat, was er will. Er hält sich auch nicht an die gesellschaftlichen Konventionen, kommt aber erheblich weiter mit seinem Verhalten.


    Wenn man den Familien Geld kürzt, ist man unter H4 bzw. unter dem Satz der Aufstocker und die Familie wird einfach mit noch weniger Geld leben und sich ungerecht behandelt fühlen, weil sie es nicht besser wissen und können, weil sie selbst zwar hier zur Schule gegangen sind, aber dennoch nicht lesen gelernt haben, weil sie auch als Kinder nicht genug gelernt haben, weil sie hilflos sind.

    Man will also bei denen Geld kürzen, die ungebildet sind, weil auch vor 15 Jahren die Schulen diese Kinder nicht auffangen konnten.


    Es wird häufig von 20% der Gesellschaft gesprochen, das sind die 20%, die dann auch kaum oder keinen Schulabschluss haben. Und diese 20% sammeln sich dann an bestimmten Schulen und bilden dort 98%, weil andere Schulen diese Kinder nicht aufnehmen.

    • Offizieller Beitrag

    laleona: Eigentlich widerspricht das all dem, woran ich im Leben glaube, nämlich, dass Kinder gerade nicht einfach die Verhaltensweisen ihrer Eltern übernehmen,

    Zum Glück haben wir die Wissenschaft und sind nicht hier in einer Glaubensgemeinschaft.

    Die Wissenschaft (insbesondere die Soziologie) hat in den letzten ... 60 (!!) Jahren (1964 ist der erste Artikel von Bourdieu zum Thema raus, aber seien wir nicht so... in den letztn 40-50 Jahren) mehr als eindeutig nachgewiesen, wie soziale Reproduktion funktioniert.
    Wenn du das nicht im Studium hattest (schade und kein Qualitätszeichen für die Lehrerbildung): der Wikipedia-Artikel ist auch nicht schlecht.

  • Nur weil Mama meinte "Ach, Mathe, das konnte ich nlch nie." heißt das ja nicht, dass ich Zahlen nicht voll cool finden, in der Schule Rechenaufgaben mit Begeisterung lösen und später einen Job im MINT-Bereich ergreifen kann.

    Das Beispiel zeigt ganz gut, dass du die Problematik gewaltig unterschätzt. Natürlich kann man sich weiterentwickeln. Ich selber war auch die erste in meiner Familie, die Abi gemacht und studiert hat. Aber: ich hatte ein stabiles Elternhaus, es gab einen geregelten Tagesablauf, vorgelebte Werte und Eltern, die mir zwar inhaltlich irgendwann nicht mehr helfen konnten, mir aber immer Rückendeckung gegeben haben . Das genau haben die Kinder um die es geht aber nicht. Da fehlen sämtliche Grundlagen.

    Mag sein, dass sie irgendwann sagen: So wie meine Eltern will ich nicht leben. Die spannende Frage ist dann aber: was für Alternativvorstellungen haben sie dann und sind die dann wirklich besser. Und wenn sie wirklich besser sind: sind sie realistisch? Und sind dann noch die Ressourcen da, um sie auch tatsächlich zu erreichen? Ich fürchte sehr sehr oft nicht.

  • Mein Mann kommt aus einem Arbeiterhaushalt, Vater bei BMW am Band, Mutter Hausfrau, er ist nun Lehrer. Also mein Mann. Er hat´s geschafft. Aber: Seine Eltern waren nie bildungsfern. Die Empfehlung, dass mein Mann das Gym besucht, kam aber von der GS-Lehrerin, die geachtet wurde. Gelernt hat dann keiner mit ihm, Geld während des Studiums gab es auch nicht, aber immer Achtung für seine Leistungen.

    Er hat es also rausgeschafft aus seinem Milieu. Aber die grundlegenden Haltungen, die hat er von seinen Eltern übernommen. Man geht wählen. Man liest Zeitung (und wenn´s nur eine großgedruckte ist (nicht die Bild)). Man achtet die andren, egal, welchen Status sie haben. Etc.

    Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, dass man sie ignoriert.

    Aldous Huxley

  • Das Beispiel zeigt ganz gut, dass du die Problematik gewaltig unterschätzt. Natürlich kann man sich weiterentwickeln. Ich selber war auch die erste in meiner Familie, die Abi gemacht und studiert hat. Aber: ich hatte ein stabiles Elternhaus, es gab einen geregelten Tagesablauf, vorgelebte Werte und Eltern, die mir zwar inhaltlich irgendwann nicht mehr helfen konnten, mir aber immer Rückendeckung gegeben haben .

    Ja, genau wie bei meinem Mann. Ganz genauso.

    Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, dass man sie ignoriert.

    Aldous Huxley

  • Dann kenne ich vermutlich einfach zu viele Gegenbeispiele (Ausnahmen?) von jungen Menschen, die gerade nicht die soziale Reproduktion fortsetz(t)en.

    Ich glaube eher, du kennst diese Leute nicht gut genug. Mein Mutter hatte zwar selber nichts, ich bin aber stets mit der Idee erzogen worden, dass man sich auf jeden Fall selbst versorgt und arbeiten geht. Egal was, man liegt nicht dem Staat auf der Tasche. Bei uns gab es auch kein "Mathe konnte ich selber nie, hihihi" obwohl meine Mutter nur 8 Jahre Schulbildung hatte. Dann sieht es hinterher so aus, als hätte man als Nachkomme irgendeine Art von Kreislauf durchbrochen, in Wahrheit kommt das aber längst nicht so vom Himmel gefallen, wie man als Aussenstehender meinen möchte.

  • Ich habe das nicht nur auf das kleine Matheproblem bezogen, sondern sicher auch größere Themen wie dem Umgang mit Konflikten, Rauschmitteln, Lebensmitteln, Geld (!), Benehmen in der Öffentlichkeit bzw. gegenüber Fremden, fremdes Eigentum usw.

    • Offizieller Beitrag

    Ich habe das nicht nur auf das kleine Matheproblem bezogen, sondern sicher auch größere Themen wie dem Umgang mit Konflikten, Rauschmitteln, Lebensmitteln, Geld (!), Benehmen in der Öffentlichkeit bzw. gegenüber Fremden, fremdes Eigentum usw.

    Du gehst ERNSTHAFT davon aus, dass die meisten Menschen in diesen Themen anders handeln als ihre Eltern?!

  • Nicht die meisten, davon war nie die Rede.

    Und ja, in vielen Punkten habe ich fundamental andere Ansichten als meine Eltern. Ohne ins Detail zu gehen fängt das bei dem Punkt Rauschmittel an.

  • Ach ja, natürlich kann man in einzelnen Punkten anders leben als die Eltern, aber die Grundhaltung, die bleibt halt.

    Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, dass man sie ignoriert.

    Aldous Huxley

  • Die Grundhaltung meiner ungebildeten Schwiegereltern war: Mach das, was du machst, gut und ordentlich. Und so hat´s mein Mann gehalten, nur, dass seine Möglichkeiten eben andre waren als die seiner Eltern.

    Er lebte in aufgeklärten Zeiten in einer Großstadt, die Schwiegers auf dem Dorf, wo man schon in die Volksschule 30 min Minimum gehen musste. Und es waren arme Familien und die Kinder mussten halt bald dazuverdienen. Da war keine Wahl. Aber: Mach das, was du machst, ordentlich und gut.

    Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, dass man sie ignoriert.

    Aldous Huxley

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