"Nährboden für diffuse Nostalgie"

  • Ein FAZ-Artikel über das Einschmelzen der DDR-Geschichtsforschung. Wenn man die bestehenden Differenzen zum Thema machen und die Gewalt aufarbeiten würde, statt aus Deutschland West zu behaupten, es gebe keine Unterschiede und sich in Deutschland Ost abzukapseln und eine eigenen heroischen oder nostalgischen Rückblick zu kultivieren, wäre m.E. viel fürs Zusammenwachsen und gegen Populismus getan.


    https://m.faz.net/aktuell/karr…e-an-fakten-19232306.html

  • Dieser Artikel ist genau das, was wir im Osten so mögen. Deshalb liest kaum einer, zumindest hier, die FAZ. Ich nehme nur zwei Sätze heraus. Mehr lohnt nicht.

    Es wird wieder etwas länger.

    Zitat

    Ähnliches gelte für das Bildungssystem, das weitaus elitärer gewesen sei, als man es sich gemeinhin vorstelle. Dafür stünden besonders die wenig bekannten Spezialschulen, die nach politischer Vorselektion nur ein Prozent der Jugendlichen besuchen durften.

    Ich war an einer der Spezialschulen Lehrer, an der Spezialschule für Mathematik und Naturwissenschaften in Karl-Marx-Stadt, also heute Chemnitz.

    "Wenig bekannt" ist ein Lacher. Ein Abschluss an unserer Schule war an Unis, Hochschulen usw. ein Qualitätsmerkmal.


    Die "Vorselektion" war ein extrem anspruchsvoller Test für Mathematik, Physik und Chemie. Hervorragende Kenntnisse in Russisch und Englisch wurden ebenso gefordert, da fremdsprachliche Materialien z.B. in Mathe verwendet wurden. Aus dem ganzen Bezirk Karl-Marx-Stadt wurden je Jahr 51 Schüler und Schülerinnen aufgenommen, in drei Klassen zu je 17. Sachsen hatte 4 MINT-Spezialschulen. Dazu kamen noch die MINT-Spezialklassen an den vier Unis.

    Die Tests würden heute keine 50 in ganz Sachsen bestehen.


    Im Sommer 1990 (also noch DDR) hatte meine Schule 5 Preisträger bei Internationalen Olympiaden. In diesem Jahr war die Spezialschule für Mathematik und Naturwissenschaften Karl-Marx-Stadt die erfolgreichste Schule der Welt, mit 2. und 3. Platz in Mathe, 1. und 2. Platz bei Physik und 2. Platz bei Informatik.

    Aus meiner ersten Klasse an der Spezialschule sind alle promoviert und heute (bis auf 2 leider verstorbene) weltweit in Spitzenpositionen tätig, von den USA über UK und die Schweiz bis nach Asien.

    Mit "politischer" Vorselektion wären die Ergebnisse nur möglich gewesen, wenn man davon ausgeht, dass besonders "politisch Zuverlässige" in MINT super sind.


    Politische Gespräche mit unseren Schülern hätten jeden verbohrten Parteifunktionär geschockt. Im Internat wurde z.B. von den Schülern auch regelmäßig "Westfernsehen" geguckt. Irgendwelche technischen Sperren waren sinnlos, dazu waren die Schüler viel zu intelligent.

    Wenn ein Lehrer im Politik- und Geschichtsunterricht leere Phrasen gedroschen hätte, hätte er sofort jegliche Achtung verspielt. Unsere Schüler waren "gnadenlos", was 1992 neu hinzugekommene Lehrer schmerzlich erfahren mussten.

    Ich habe z.B. meine 11.Klasse zweimal die Woche als Klassenleiter zum GK-Unterricht gebracht, da sie sich offen weigerten, sich Unfug anzuhören und geschwänzt haben. Und als Kuriosum: In der 12.Klasse habe ich den GK-Unterricht gegeben. Damals war so etwas möglich, da es keine Prüfung gab. Wir haben "Wirtschaft" gemacht. Lief gut.

    Politisch sehr interessierte und kritische Schüler: Ja. "Politisch vorselektiert": Ein Witz.


    Ein paar Ex-Schüler:

    In den MINT-Spezialschulen und Spezialklassen der DDR waren u.a. Reinhard Höppner (Christ, 1994-2002 SPD-Ministerpräsident in SA), P. Kröger (mathematisches Wunderkind und heute Spitzenmathematiker, verließ 1974 mit seinen Eltern "illegal" die DDR), R. Belch (Jude, Spitzenmathematiker und lebt seit Jahren in einem Kibutz in Israel, ich hoffe es geht ihm gut) und die im Moment amtierenden SPD-Oberbürgermeister von Chemnitz und Schwerin. Mindestens eine Handvoll meiner Schüler waren im wilden Herbst 1989 sehr aktiv und wirklich aktiv und nicht so, wie viele heute von sich behaupten. Die Liste lässt sich fortsetzen.


    Und noch etwas Persönliches. Ich habe eine ziemlich dicke Stasi-Akte, nicht als Täter sondern als Opfer. Ich war nämlich als Abiturient nicht so "nett". Die Spezialklasse in Halle musste ich nach der 11 verlassen und habe dann in Karl-Marx-Stadt Abi gemacht. Ich war auch nicht bei der Armee. Nach den heutigen Überzeugungen hätte so einer wie ich niemals Lehrer sein dürfen und schon gar nicht eine Stelle in einer Vorzeigeschule bekommen können.

    Nun ja, ich hatte den Job. Irgendwie komisch.

    Und noch ein Kuriosum: Als ich 1992 von der Klassenfahrt (11.Klasse, Hohe Tatra) zurückkam, fand ich meine Kündigung vor. Als "alter" Spezialschullehrer war ich "vorbelastet". Nur der massive Protest der Eltern meiner Schüler ermöglichten mein Bleiben.


    Eine reale Einschätzung der DDR ist notwendig. Das erfordert aber unvoreingenommene Wissenschaftler.

  • Irgendwie klingen deine Beiträge zu dem Thema, alpha , für mich immer wie: "In der DDR war alles besser." :_o_(

    Nicht alles, aber das ein oder andere schon. Außerdem stellt er Falschdarstellungen richtig.


    Im Sommer 1990 (also noch DDR) hatte meine Schule 5 Preisträger bei Internationalen Olympiaden. In diesem Jahr war die Spezialschule für Mathematik und Naturwissenschaften Karl-Marx-Stadt die erfolgreichste Schule der Welt, mit 2. und 3. Platz in Mathe, 1. und 2. Platz bei Physik und 2. Platz bei Informatik.

    Welche Plätze haben denn zu der Zeit westdeutsche Schulen belegt?

    Planung ersetzt Zufall durch Irrtum. :_o_P


    8_o_) Politische Korrektheit ist das scheindemokratische Deckmäntelchen um Selbstzensur und vorauseilenden Gehorsam. :whistling:

  • Irgendwie klingen deine Beiträge zu dem Thema, @alpha , für mich immer wie: "In der DDR war alles besser." :_o_(

    Das ist mir vollkommen egal, was du hineindeutest.


    Ich habe die Nase voll, wenn mir immer wieder Leute erzählen, wie ich in der DDR angeblich gelebt habe. Und ich lasse mir das, was wir bei allen Schwierigkeiten erreicht hatten, nicht mehr von irgendjemanden madig machen. Und es wird von Jahr zu Jahr schlimmer.


    Und was meine Ex-Schule betrifft, so kann man ja unter https://www.kepler-chemnitz.de…enten-unseres-gymnasiums/ gern nachlesen. Auf dieser Seite sind aber, bis auf einen, nur Absolventen aufgelistet, die das "Gymnasium" absolvierten. Außerdem nur sehr wenige der "Supererfolgreichen". Vor einiger Zeit wurden noch alle internationalen Preisträger (der Zeit als wir noch "Spezialschule" hießen) genannt, etwa 20 und nicht nur Mathe, Physik und Informatik sondern auch in Chemie oder Biologie.

    Das war eine Spezialschule und nicht ein Platz "politischer Selektion und Indoktrination", wie der FAZ-Artikel suggeriert.


    Und deshalb bin ich sehr dafür, dass endlich mal eine realistische Bewertung erfolgt. Ich glaube aber nicht, dass ich das noch erlebe.

  • Ich habe die Nase voll, wenn mir immer wieder Leute erzählen, wie ich in der DDR angeblich gelebt habe. Und ich lasse mir das, was wir bei allen Schwierigkeiten erreicht hatten, nicht mehr von irgendjemanden madig machen. Und es wird von Jahr zu Jahr schlimmer.

    :danke::danke::danke:

    Planung ersetzt Zufall durch Irrtum. :_o_P


    8_o_) Politische Korrektheit ist das scheindemokratische Deckmäntelchen um Selbstzensur und vorauseilenden Gehorsam. :whistling:

  • Der leistungsorientierte Matheunterricht und der leistungsorientierte Sport. Und die leistungsorientierte Nostalgie natürlich. Es braucht aber mehr als das Aufstampfen, so wie es mehr braucht, als zu sagen, dass doch alles gut ist und keine Trennung mehr vorhanden. Die Erfahrungen und der Geschichtsunterricht und die Gesellschaft und die Erinnerungen waren über Jahrzehnte auf beiden Seiten fundamental unterschiedlich. Wenn wir nicht darüber ehrlich reden, sondern stattdessen zynisch werden, haben wir noch jahrzehntelang ein Problem.

    • Offizieller Beitrag

    Ich habe eine dieser Spezialschulen in Berlin besucht und kann mich alphas Schilderung im Wesentlichen anschließen.

    Die Auswahl erfolgte im Wesentlichen über den Test und vorherige Erfolge bei mathematisch-naturwissenschaftlichen Wettbewerben.

    Mir haben die Ohren geschlackert, als beim ersten Fahnenappell des Schuljahres Schüler der 11. Klassen kritisch über das prämilitärische Camp, an dem sie teilnehmen mussten, berichteten. (Ich habe den Namen vergessen, falls er mir noch einfällt, ergänze ich ihn.)

    Während der Ausschreitungen vor der Maueröffnung hat ein Schüler einen Augenzeugenbericht ans Schwarze Brett gehängt. Der hing dort so lange, dass ihn alle lesen konnten. Danach gab es von Seiten der Schulleitung die Forderung, dass der Schüler das widerrufen möge, tat er nicht. Es gab überaus kritische Diskussionen. Wir hatten Politiker da, mit denen wir über ein gutes Schulsystem diskutierten, Ideen entwickelten. Wir konnten in der 10. Klasse eine 3. Fremdsprache lernen, das wurde für uns organisiert.

    Als wir in der 10. Klasse waren, bekamen wir das Westberliner Schulsystem "übergestülpt". "Wir machen jetzt einfach alles anders. Ihr geht jetzt einfach ein Jahr länger zur Schule, Russisch ist nicht mehr eure erste Fremdsprache, denn Russisch als erste Fremdsprache ist in West-Berlin nicht vorgesehen. Daher ist das jetzt eine zweite Fremdsprache. Englisch kann aber auch nicht erste sein, denn dafür habt ihr nicht genug Lernjahre, Englisch ist auch zweite Fremdsprache. Ihr dürft aber trotzdem euer Abi machen, auch wenn ihr keine erste Fremdsprache habt. Eure angefangene 3. Fremdsprache? Tja, nun, Pech gehabt, gibt es nicht mehr."

    Sicherlich gab es politische und wirtschaftliche Gründe, diese Wiedervereinigung schnell zu gestalten. Die waren vielen aber nicht klar und sie wurden nicht klar kommuniziert.

    Meine spätere Erfahrung im phasenweise arbeitenden und immer wieder neu zusammengesetzten Jugendorchester war: Diejenigen in meinem Alter waren die ersten, die dort ab 1991 mitspielen durften und das hat den Horizont total erweitert, es war eine tolle Gelegenheit. Die jüngeren, die später dazukamen, fragten oft als erste oder zweite Frage: "Ossi oder Wessi"? Warum? "Ich möchte wissen, ob wir gleich ticken." Und damit schließe ich mit einem Zitat von Quittengelee:


    Die Erfahrungen und der Geschichtsunterricht und die Gesellschaft und die Erinnerungen waren über Jahrzehnte auf beiden Seiten fundamental unterschiedlich.



    (Sucht mich bitte nicht in den Absolventenlisten der Berliner Spezialschule, ich habe nach der Wiedervereinigung die Schule gewechseltt.)

    SCHOKOEIS!


    Ich lese und schreibe nach dem Paretoprinzip.

  • Dieser Artikel ist genau das, was wir im Osten so mögen. Deshalb liest kaum einer, zumindest hier, die FAZ. Ich nehme nur zwei Sätze heraus. Mehr lohnt nicht.

    Das scheint dann die viel zitierte ostdeutsche Wut zu sein. Statt sich konstruktiv am Diskurs zu beteiligen, wird "gegen den Wessi" geschossen. So wird das nichts.


    Das Zitat stammt gar nicht vom FAZ Redakteur. Er zitiert selbst Prof. Dr. Klaus Schroeder, der wissenschaftlichet Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der FU Berlin ist. Wenn du da Klärungsbedarf hast, wird er dir sicher zuhören bzw. seine Position rechtfertigen/begründen. Vielleicht ist er ja sogar falsch zitiert worden.

    Das "wenig bekannt" bezieht sich nicht auf die Bekanntheit in der DDR, sondern auf den heutigen Kenntnisstand der gesamtdeutschen Bevölkerung. Das ergibt sich aus dem Artikelkontext.

  • Leider ist der Artikel inzwischen hinter der Paywall. Ich fand ihn ganz gut und stimme dem Autor zu, dass es schade ist, dass die Forschung zum Thema DDR und BRD abnimmt. Sie mag vielleicht nicht für die direkt Beteiligten wichtig sein, aber für alle anderen z.B. um die Aussagen der direkt Beteiligten einzuordnen.

  • Da fiele sogar mir einiges ein, meine halbe Verwandtschaft hat in der DDR gelebt. Davon war niemand pro SED*, entsprechend haben die auch immer wieder Benachteiligung erlebt. Ich sehe allerdings keinen grossen Sinn darin, sich darüber hier auszulassen. Hier will sich doch nur mal wieder jemand bestätigen lassen, dass alles nur scheisse war. Ist doch gut, so soll jeder weiter in seiner Blase vor sich hinvegetieren.


    *Edit: Tschuldigung, eben doch eine Person.

  • Nein. Ich bin mir ziemlich sicher, dass alles was ich schreibe, sofort ins Gegenteil verkehrt wird. In den beschriebenen MINT-Eliteschulen herrschte doch unmenschlicher Leistungsdruck, nicht wahr? Es ist nur anekdotische Wahrnehmung, dass zwei Personen, die selbst dort waren, schreiben, es sei nicht so gewesen.

  • Ich kenne auch einige, die gewaltig benachteiligt wurden (2 Kollegen kamen deswegen direkt nach Mauerfall in den Westen an meine Schule, der eine hatte viele Jahre Berufsverbot). Ich selbst habe 2 Erlebnisse Anfang der 80er Jahre mit Unrecht durch Polizisten der DDR. Ich weiß von meinen Verwandten, dass sie teilweise Vorteile hatten dank Stasi (heute wählen sie AFD).


    Ja, ich weiß, dass MINT genau wie Sport in der DDR gewaltig gefördert wurden (mehr Schulstunden als im Westen). Man konnte schließlich Wettbewerbe gewinnen. (Übrigens mein Labornachbar 1988 hatte Chemieolympia gewonnen, es gab also auch Westler, wenn auch weniger).


    MINTfächer wurden auch noch später nach der Einheit bevorzugt, ich nehme regelmäßig seit 1994 an deutschlandweiten Fortbildungen teil und war neidisch auf 3 Stunden Chemie in der Woche (Bayern hatte damals teilweise eine Wochenstunde insgesamt am sprachlichen Gymnasium). Dafür wurde weniger Geschichte usw. unterrichtet. Ergebnisse sehen wir heute (hat übrigens meine Meinung geändert, Chemie statt Geschichte bzw. Politik finde ich nicht mehr gut).


    Das hat sich zum Glück inzwischen geändert. Ich kenne allerdings auch eine Kollegin aus Leipzig, die dies bedauert.

    Meine Beiträge werden auf einer winzigen Tastatur eines Tablets mit Autokorrektur geschrieben. Bitte entschuldigt Tippfehler. :mad:

  • Du hast mich ziemlich sicher missverstanden. Von meinen Verwandten fanden nicht alle alles scheisse obwohl sie immer wieder auch benachteiligt wurden. Soweit ich weiss, wählt da übrigens niemand AfD bzw. was ich sicher weiss, ist, dass sich seinerzeit mehrere Personen aktiv an PEGIDA-Gegendemos beteiligt haben.


    Aber ja, wir hatten auch jemanden bei der NVA. Aktives Parteimitglied der SED natürlich, hat auch über meine Mutter immer fleissig Bericht erstattet. Meine Mutter hat es mir zeitlebens immer mal wieder vorgehalten, dass ich als 3jährige in einem Lebensmittelladen in der mecklenburgischen Wallapampa mal fast für einen politischen Eklat gesorgt habe, weil ich an der Kasse nach einem Lolli gefragt habe. Ich erinnere mich selbst leider nicht mehr daran.

  • Antimon, ich bezog mich nicht auf dich, benötigte länger dank Störungen, schrieb also parallel zu dir bzw. deinem letzten Beitrag.


    Ich kenne am anderen Ende Deutschlands wohnend vor allem Menschen, die in der DDR Nachteile erfuhren. Zu meinen Verwandten habe ich kaum noch Kontakt.


    Mir ging es vor allem um den unterschiedlichen Schulunterricht.

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