Zertifikatskurse in NRW - Gefahr für das fachliche Niveau?

  • Guten Abend liebe Foristen,
    dies ist mein erster Beitrag und hoffentlich mach‘ ich nichts falsch :)


    Die Situation ist folgende: An meiner Schule herrscht (wie an vielen Schulen) Lehrermangel für das Fach Informatik. Neben mir haben wir noch 2 Kollegen, die studierte Informatiklehrer sind - an einem großen Gymnasium eher wenig.
    Aus diesem Grund wurde vor einiger Zeit einer dieser Zertifikatskurse eingerichtet, mithilfe derer die fachfremden Kollegen die Fakultas für gefragte Fächer, hier Informatik erwerben können.
    Nun schließt eine Kollegin diesen Kurs bald ab. Ich wurde beauftragt, ihr ein bisschen Hilfe zu leisten, sodass sie bald eigenverantwortlichen Informatikunterricht in der Oberstufe durchführen kann.
    Das Problem ist nur: Ich halte ihre Informatikfachkenntnisse für unterirdisch. Ich weiß nicht, was man in diesen Kursen lernt. Fakt ist, dass sie nur über ganz grundlegende Programmierkenntnisse in Java verfügt, ein bisschen Schaltungen, ein bisschen Automatentheorie, alles aber nur super oberflächlich. Kenntnisse über Algorithmen etc. sind de facto nicht vorhanden.
    Ich weiß nicht wirklich, wie sie mit diesem Wissen sogar Leistungskurse(!) unterrichten soll.
    Meine Frage ist nun: Was für Erfahrungen habt Ihr mit diesen Kursen gemacht? Hat die Kollegin einfach einen schlechten Kurs erwischt oder liegt das Problem tiefer? Denkt Ihr, dass das Fachniveau durch solche faktisch fachfremd unterrichtenden Kollegen leidet?
    Gibt es hier evtl. sogar jemanden, der einen Zertifikatskurs gemacht hat und berichten kann?

  • Ich glaube, man muss es differenzierter sehen.


    Es gibt Zertifikatskursteilnehmer, die sich mächtig ins Zeug legen und sich stundenlang mit dem Zeug auseinandersetzen.
    Ich habe mindestens 6 Stunden jede Woche Zusatzaufgaben gemacht und hatte mich nebenbei für etwas Informatik an der FH eingeschrieben. Mein Kurs war hervorragend!


    Es gibt bestimmt einige Referendare mit dem Fach Informatik, die trotz schlechter Note eine Stelle bekommen haben. Ich kenne auch solche Fälle, wo ich mich wundere, dass sie es als Lehrer überleben.


    Was ist denn besser?

  • Ich entnehme der Broschüre des Ministeriums z.B. für Mathe, Sek II, dass so ein Kurs 2 Jahre mit 640 Stunden beinhaltet. Das Zertifikat erhält, wer engagiert mitgearbeitet hat. Ziel ist eine Qualifizierung für Lehrer, die ein Fach sowieso fachfremd unterrichten. Es ist also definitiv kein vollwertiges Studium.


    Ich denke, ein Gymnasium mit 3 Informatiklehrern handelt nicht unbedingt klug, jemandem mit Zertifikatskurs einen LK zu überlassen.


    Aber wenn's dich beruhigt, an Grund- und Förderschulen dürfen alle möglichen Seiteneinsteiger alles Mögliche unterrichten, Leute die irgendwas studiert haben unterrichten als vollbezahlte Vertretungskräfte irgendwas. Es ist traurig, aber im Moment wohl nicht zu ändern, wenn kein Unterricht Notbetreuung ausfallen soll.

  • Ein Kollege bei uns gibt selbst einen Zertifikatskurs und eine Kollegin sitzt da gerade drin. Sie sagt, dass sie gut mit kommt, sie hat das Fach aber auch schon selbst angefangen zu studieren, nur nicht beendet.
    Ich glaube da kann man sich sehr rein hängen und es super machen oder so gerade das Minimum liefern. Ich weiß von dem Kollegen jedenfalls, dass die Motivation und das Engagement sehr variieren.


    Bei uns werden Leute mit Zertifikatskurs meine ich nicht in AHR sondern in nicht-Prüfungsfach-relevanten-FHR-Klassen eingesetzt.

    Only Robinson Crusoe had everything done by Friday.

  • Man muss da mal realistisch bleiben.
    An der Uni studiert man 10 Semester. Das sind grob 4 Semster pro Fach und 2 für Pädagogik. Dabei studiert man 5 Tage die Woche.
    Ein Z-Kurs geht 1 Jahr, jeweils einen Tag die Woche.
    Dass da keine gleichwertigen Ergebnisse erzielt werden können, liegt irgendwie auf der Hand.


    Die Kompetenz der Z-Kurs-Absolventen hängt daher noch viel viel stärker vom persönlichen Engagement der Teilnehmer ab als bei einem Studium.
    Guckt man sich dann an, wie unbeleckt selbst mancher aus seinem Studium geht.... dann ist irgendwie klar, dass die Leute, die zum Z-Kurs geschickt werden, sehr gründlich ausgewählt werden sollten.


    Idealerweise nimmt man da jemanden, der sich bereits im Bereich auskennt und bereit ist die formalen Grundlagen selbst noch einmal aufzuarbeiten. Der Z-Kurs liefert dann die unterrichtspraktischen Hinweise.

  • Was versteht ihr denn unter Informatik?
    Am BK haben wir Spezialisten jeweils für Programmieren, Datenbanken, Betriebssysteme und Netzwerke.
    Die Tiefe ist dermaßen groß, dass selbst der Unterstufenprogrammierlehrer nicht ohne intensive Vorbereitung die Oberstufe unterrichten kann, geschweige denn Datenbanken oder weiteres.


    Letztendlich arbeitet sich also der Kollege tief ein und wächst mit den Schülern ins Fach rein und nach 2 Jahren und unzähligen Arbeitsstunden habt ihr den Spezialisten.


    Leider gibt's Kollegen, die dazu nicht bereit sind und den Bildungsgang versauen.


    Ein Zertifikatskurs, selbst ein Studium, vermittelt nicht die benötigte Tiefe.

  • Ein Zertifikatskurs, selbst ein Studium, vermittelt nicht die benötigte Tiefe.


    Das ist ein grundsätzliches Problem.
    Das Studium vermittelt dir nicht alle benötigten Kenntnisse aber in der Regel die Grundlagen und vor allem die Fähigkeit dir selber Sachverhalte zu erarbeiten.


    Für Informatik zählen bei den Grundkenntnissen für mich die Algorithmen und Datenstrukturen sowie das Programmieren einer wichtigen Sprache dazu.
    Welche Sprache dann gebraucht wird, kann ja abgestimmt werden, bzw wenn man eine gut kann / verstanden hat, kann man sich auch andere erarbeiten.


    Letztlich ist für so einen Kurs wohl definitiv Engagement wichtig.
    Da ich in vielen IT-Bildungsgängen eingesetzt bin überlege ich selber für mich noch Informatik zu studieren um die Grundlagen besser zu verstehen. Bzw. die Anknüpfung an die Elektrotechnik zu schaffen.


    Welche Fächer hat die Kollegin denn und wieso wurde sie für den Kurs ausgewählt?

  • Es ist doch in allen Fächern so, dass die fachlichen Kenntnisse der Kollegen höchst unterschiedlich sind.


    Ich habe selbst auch eine Qualifikationsmaßnahme durchlaufen, allerdings war es zusätzlich so, dass man sich (freiwillig) an der Uni parallel prüfen lassen konnte (was ich gemacht habe). Mit der Qualifikationsmaßnahme alleine durfte man das Fach dann in Niedersachsen unterrichten, mit der Uniprüfung hatte man ein vollwertiges Staatsexamen. Die Maßnahme selbst war aber auch nicht ohne, wir hatten eine hohe Abbruchquote, und am Ende wurde eine umfangreiche Klausur geschrieben.


    Ich habe einige Jahre nebenberuflich als Programmierer gearbeitet. Ganz ehrlich, die Referendare, die das Fach voll an der Uni studiert haben, haben nicht annähernd die Programmiererfahrung, die ich habe. In anderen Bereichen (technische Informatik etwa) sind die aber fitter (meine Prüfungsthemen bei der Uniprüfung waren theoretische Informatik und Computergrafik, technische Informatik hatte ich nur im Umfang der qualifizierungsmaßnahme).


    "Kenntisse" über Algorithmen kann man sich aneignen (so im Sinne von - welche Sortieralgorithmen gibt es oder so). Schwieriger wird es bei Komplexitätsbetrachtungen. Noch schwieriger dann bei formalen Sprachen und anderen Aspekten der theoretischen Informatik. Echte Programmiererfahrung wiederum ist unersetzlich, wenn man Schüler bei eigenen Projekten unterstützen möchte.


    Wenn es jetzt so ist, dass überall die Grundlagen fehlen, dann sollte die Kollegin eben nicht in der Oberstufe eingesetzt werden.

    • Offizieller Beitrag

    Wenn man sieht, dass man bei „Bereitschaft, den Zertifikatskurs Physik / Mathe / Informatik“ eine Planstelle bekommt, auch wenn man Deutsch/ Geschichte hat, dann ist es klar... klar, es wird der Mathe/beliebig-Kandidat für Info bevorzugt aber bei uns an der Schule macht das auch ne Sprachkollegin. Ohne Mathe-LK.
    Ich traue ihr zu, sich einzuarbeiten aber natürlich kann man es nicht vergleichen. 4 Stunden Anrechnung. Kein Mensch reduziert auf halbe Stelle, um sich da voll darauf zu konzentrieren.

    • Offizieller Beitrag

    Naja rein formal bekommst du sie ja nicht.
    Du hast dann nur die Unterrichtserlaubnis nicht die Unterrichtsbefähigung. ;)


    Aber in der Praxis heißt das natürlich nicht viel.

    was ist der Unterschied? Nur, dass ich mich nicht auf eine fachbezogene Beförderungsstelle bewerben darf bzw. das Fach nicht automatisch beim Länderwechsel mitnehme?
    Oder gibt es da ‚gravierendere‘ Unterschiede?


    Und ja, ich bin auch ein bisschen skeptisch, ich hab schliesslich alle meine Fächer voll /regulär studiert bzw. regulär abgeschlossen (das Studium war zum Teil abgespeckt, nicht die Prüfung) und finde es doof, dann mit Menschen ‚gleichgestellt‘ zu werden, die sogar in ihrer Arbeitszeit dafür bezahlt wurden.
    Allerdings: es hat System und das Land will halt nur die Unterrichtsversorgung sicher stellen.

  • Bislang fand ich die hessische Variante ja schon grenzwertig, aber die Lage in NRW ist ja noch gravierender....
    Für bestimmte, im Amtsblatt ausgeschriebene Fächer kann hier in Hessen die Fakultas zusätzlich erworben werden. Innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren mit abschließender Prüfung erhält man damit die Fakultas für Sek 1 oder Sek 2 je nach Kurs.
    Einen Tag in der Woche geht man dabei in die Uni und/oder nimmt an anderen Seminaren teil. Ich hatte mich dafür mal interessiert, aber da man bei uns gerade mal 2 Stunden Unterrichtsverpflichtung erspart bekommt und den Rest dann auf 4 Tage verteilt hat, habe ich mich dagegen entschieden.
    Ein vollwertiges Studium ersetzt selbst die hessische Variante bei Weitem nicht, bei euren Bedingungen schaudere ich.


    Wenn man die Fakultas hat, sollte man meiner Meinung nach auch einen LK führen können

  • Man muss da mal realistisch bleiben.
    An der Uni studiert man 10 Semester. Das sind grob 4 Semster pro Fach und 2 für Pädagogik. Dabei studiert man 5 Tage die Woche.
    Ein Z-Kurs geht 1 Jahr, jeweils einen Tag die Woche.
    Dass da keine gleichwertigen Ergebnisse erzielt werden können, liegt irgendwie auf der Hand.

    In Hessen studiert ein L3er ein Unterrichtsfach im Umfang von 88 CP, also keine 3 Semester. Davon sind 24 CP Fachdidaktik, 64 CP Fachwissenschaft, also ca. 2 Semester. Das ist schon nicht viel und für diejenigen, die sich nicht auch privat mit Informatik beschäftigen, viel zu wenig. Wenn ich mich an die Programmierpraktika zurückerinnere, wird mir Angst und Bange, wie solche Leute jemals einen LK durchs Abi bringen wollen.


    Dass Leute, die ein bisschen Zertifikatskurs neben einer vollen Stelle machen, ohne danach eine Prüfung abzulegen, die wenigstens die Studieninhalte abprüft, LKs unterrichten dürfen, ist schon fast fahrlässig.

  • Zwischenfrage, weil's mich echt interessiert. Was bringt einem denn so ein Zertifikatskurs, auser dass man es dem Land leichter macht, fehlende stellen zu kaschieren? Habt Ihr dvon irgendeinen Vorteil?

    • Offizieller Beitrag

    1) oft: die Planstelle.
    2) möglicherweise: bei einem Versetzungsantrag ist es natürlich "einfacher", eine aufnehmende Schule mit dem Fach Informatik zu finden als mit Englisch/Deutsch.
    3) selbst, wenn man fachfremd unterrichten _darf_, Schulleitungen wollen doch eher Leute mit dem Zertifikatskurs. Das heißt: ich DARF das Fach unterrichten, das kann mir keiner nehmen, also in dem Sinne, dass eine neue Schulleitung sagen würde "nee, mit mir geht es nicht, sie brauchen schon eine Art Berechtigung".
    4) immerhin eine Art Qualifikation, es ist schon 100 mal besser als ganz fachfremd. Soweit mir aber von KollegInnen erzählt wurde, ist so ein Kurs aber wirklich kein Studium sondern die Begleitung der KollegInnen, die gerade schon fachfremd unterrichten oder die Vorbereitung der Einheiten für den späteren Einsatz. Man geht also aus dem Kurs mit vielen "Kochrezepten" heraus. Man ist zwar den SchülerInnen ein bisschen voraus aber ohne Eigeninitiative wird es bei pfiffigen Nachfragen sehr schwer.


    Allerdings muss ich sagen: einige Refs geben mir das Gefühl, dass deren Studium auch nicht viel mehr gewesen sei, manchmal. Also: nicht sofort ein schlechtes Fachniveau unterstellen. Nur absitzen und lächeln kann man ja nicht, man hat auch viele Übungen beim Kurs und zwischen den Terminen.

  • 4) immerhin eine Art Qualifikation, es ist schon 100 mal besser als ganz fachfremd. Soweit mir aber von KollegInnen erzählt wurde, ist so ein Kurs aber wirklich kein Studium sondern die Begleitung der KollegInnen, die gerade schon fachfremd unterrichten oder die Vorbereitung der Einheiten für den späteren Einsatz. Man geht also aus dem Kurs mit vielen "Kochrezepten" heraus.

    Das ist doch immerhin 'was. Was die Ausgangsfrage anbetrifft, so ist ein zertifzierter Fachfremder immer noch besser als einer ohne. Insofern greift hier die Logik des geringeren Übels. Und das ist für NRW-Verhältnisse schon 'ne ganze Menge.


    Nein, der Zertifikatskurs ist keine Gefahr für das fachliche Niveau, um mal die Ausgangsfrage aufzugreifen. Die Gefahr für das fachliche Niveau ist die zu geringe Zahl fachlicher gebildeter Kollegen. Das wird sich im Fach Informatik auch so schnell nicht ändern. Insofern sind die Kurse nur der Versuch, in die Zentrifuge zu klettern und die Teile beisammen zu halten.


    Einen zertifizierten Fachfremden in einem Leistungskurs einzusetzen, erscheint auch mir nicht als bestechende Idee. Aber das ist kein Problem der Kurse, sondern dessen, was man an der Schule daraus macht.


    AFAIR ist bei der Unterrichtserlaubnis durch Zertifikatskurse am Berufskolleg Anlage D - also das berufliche Gymnasium - immer ausgeschlossen. Kann man auch mal drüber nachdenken.


    Generell halte ich fachfremden Unterricht für eine Katastrophe, bei Informatik nach meiner Erfahrung sogar eine riesige, selbst wenn nur Anwenderwissen vermittelt werden soll. Ich hielte es für besser, den Unterricht ausfallen zu lassen oder mit den Schülern im Wald spazieren zu gehen. Dann haben sie wenigstens frische Luft und müssen sich keinen Blödsinn anhören.

    „Fakten haben keine Lobby.“


    (Sarah Bosetti)

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