Bitten, mahnen, drohen und dann?

  • Zeit und Nerven in solche SuS zu stecken ist für mich Verschwendung und deshalb mache ich das nicht.

    ....

    Ab einem gewissen Punkt sage ich den SuS ganz deutlich und ins Gesicht: "Ich habe mich hier und da um dich bemüht. Es hat dich nicht interessiert. Jetzt lasse ich dich fallen."

    Kann man so machen, aber dann hat man die beschriebenen Probleme gehäuft. SuS sind absolute Experten diese Haltung zu detektieren, bevor du sie verbal äußerst und reagieren darauf mit Reaktanz.


    Investierst du hingegen als Lehrer (und auch als Schule als System) gezielt in die Beziehung zu den Schülern, dann tun die alles für dich und solche Probleme sind extrem selten. Wenn man sich die Beziehungsebene nicht zu Nutze macht, vergibt man sein wirksamstes pädagogisches Werkzeug.


    Was heißt das in der Praxis, wenn man es gezielt als ganze Schule einsetzt:

    Wir (Standorttyp 5, ~850 Schüler) haben in den letzten 10 Jahren 3 Schüler verloren, an die wir nicht mehr herankamen und die letztendlich die Schule verlassen haben. Ich glaube das ist eine gute Quote.

  • Wenn man sich die Beziehungsebene nicht zu Nutze macht, vergibt man sein wirksamstes pädagogisches Werkzeug.

    Das denke ich auch. Wir haben allerdings deutlich weniger SuS. Wie macht ihr das konkret? Der TE scheint sich ja allein zu fühlen mit diesen Problemen und eine ganze Schule zu reformieren ist doch etwas viel verlangt.

  • Das ganze Schulkonzept und das gemeinsame Selbstverständnis ist auf die Beziehungsarbeit ausgerichtet. Das greift auf ganz verschiedenen Ebenen.

    Beginnend mit dem Menschenbild und dem Selbstanspruch: Wertschätzung, Individualität, Kümmern, Selbstwirksamkeit erlebbar machen, Vorbilder prägen, Konsequenz, Zukunftsorientiertheit in der sozialen Interaktion, etc.

    Eine weitere Ebene ist, dass wir versuchen die Schule zu einem interessanten Ort zu machen, wo sie Möglichkeiten haben sich zu entfalten, die sie sonst nicht hätten, z.B. durch diverse AGs, außerunterrichtliche Aktivitäten, Gemeinschaftserlebnisse, Projekte etc.

    Darüber hinaus investieren wir gezielt viele Deputatsstunden in soziale Förderstunden, in denen bedarfsorientiert an Problemen, dem sozialen Zusammenhalt, der Klassengemeinschaft, der Empathiefähigkeit oder der Persönlichkeitsstärkung gearbeitet wird.

    Dazu kommen dann mehrere sozialpädagogische Ansprechpartner, die Schülern und (eingeschränkt Eltern) bei Problemen helfen und sie beraten ggf. die entsprechenden Kontakte zur Jugendhilfe und ähnlichem aktivieren etc. Ziel ist dabei, dass jeder Schüler mehrere Vertrauenspersonen und niederschwellige Ansprechpartner hat und mit Problemen nicht alleine gelassen wird. Die Klassenlehrer, die Beratungslehrer und die SV-Lehrer sind in dieses System auch mit eingebunden. Ein analoges System gibt es im Bereich sonderpädagogische Förderung und für neu zugewanderte Schüler.


    Letztendlich geht es darum Schule vom Schüler aus zu denken.

    Was will ein Schüler:

    Anerkennung, Wertschätzung, Selbstwirksamkeitserfahrung, Hilfe bei Problemen, Entdeckung und Förderung der eigenen Interessen, Möglichkeit zur Persönlichkeitsentwicklung, Möglichkeit zur Selbstentfaltung, Interesse an der eigenen Person/gesehen werden, Achtung der Individualität, positive soziale Beziehungen.


    Wenn du das als Schule adressieren kannst, dann ist sie für die Schüler ein positiver Ort und es entsteht eine positive Verstärkungsschleife.


    Auch bei uns gibt es Herausforderungen und Probleme. Wir versuchen sie gemeinsam, zukunftsorientiert und lösungsorientiert anzugehen.

  • Das hört sich alles gut an, aber bei dünner Personaldecke, wo man es nicht mal schafft, alle krankheitsbedingten Stundenausfälle aufzufangen, gleicht das einem Schlaraffenland. Wann und wo bist du?

  • Das stimmt natürlich. Unser SL ist ein absoluter Spezialist darin Personal und vor allem die nötigen Stellen zu gewinnen. Wir kapitalisieren auch Stellen um uns extern andere Expertisen einzukaufen, die uns im Kollegium fehlen.... vor allem für besondere Angebote im Ganztagsbereich. Fairerweise muss man auch dazu sagen, dass eine große Schule Synergieeffekte ermöglicht, die eine kleine nicht hat, einfach weil eine große Schule einen größeren Personalpool hat mit unterschiedlichen Fähigkeiten hat.

  • Da stimme ich dir zu. Die sind Gold wert!


    Wir haben 4 Sozialpädagogen in Vollzeit, 2 Multiprofessionelle (Vollzeit) unter anderem an der Schnittstelle zur Sozialarbeit, 2-3 Sonderpädagogen in Vollzeit (gab gerade einen Wechsel) + Lehrer mit sonderpädagogischem Stellenanteil (zusammenaddiert 2-3 Stellen) + extern eingekaufte Betreuer im Ganztag mit sozialpädagogischem Hintergrund + 2 Bufdis + 2 "Coronaförderkräfte".

    Insgesamt also schon eine deutliche Investition bezogen auf 850 Schüler. Es wäre noch zusätzlicher Bedarf da. ;)

  • Das hört sich alles gut an, aber bei dünner Personaldecke, wo man es nicht mal schafft, alle krankheitsbedingten Stundenausfälle aufzufangen, gleicht das einem Schlaraffenland.

    Stundenausfall bedeutet erst mal nur, dass was ausfällt, nicht, wie man die verbliebenen Stunden nutzt. Es ist schon auch eine Frage der Einstellung von Schulleitung und Kollegium.


    Aber klar, in einer großen Sekundarschule sind Rand- und Vertretungsstunden generell kein Zuckerschlecken. Ich frage mich, ob man den Tagesablauf umstrukturieren könnte. Mein Traum sieht so aus: Kurssystem, man sucht sich als Kind/Jugendliche*r die Zeiten und Lehrkräfte bis zu einem gewissen Grad aus. Die Lehrkräfte warten im Fachraum mit ihrem Angebot und wer in den Raum kommt, betritt diesen schon mal als Gast und sitzt nicht selbst in einer Löwenhöhle, in die die LuL eintreten müssen.

  • Die normalen Kinder bleiben immer mehr auf der Strecke. Förderung von Begabungen und Talenten? Als ob.

    Das sehe ich leider genauso. Die guten und "normalen" Schüler werden im Sinne des integrativen Lernens durch das aktuelle "System Schule" verheizt, um die SuS mit emotionalem und sozialem Förderbedarf noch irgendwie integrativ auf Spur zu bringen. Nur kann ich mich mit so einem Menschenbild nicht identifizieren. Für mich haben alle Schüler die gleichen Rechte, was die Beanspruchung meiner Arbeitszeit angeht und diese Zeit ist endlich. Entsprechend sehe ich nicht ein warum ich zu den hier angesprochenen Spezialfällen über Stunden irgendeine Art von Beziehung aufbauen soll. Bei 400 Schülern vor der Nase habe ich für jeden Schüler pro Woche ca. 6 Minuten inkl. Unterricht, Korrekturen, Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen und dem ganzen Kram. Und nein, ich sehe nicht ein, warum da die guten Schüler zurückstehen sollen.


    Entsprechend bin ich absoilut Fan eines mehrgliedrigen Schulsystems, um den unterschiedlichen Schülergruppen angepaßte Lernumgebungen bieten zu können. Leider läuft dem die aktuelle Politik der Gleichmacherei auf ganzer Linie zuwider.

  • Wieso? Widerspricht dem ja nicht.

    Wenn du ein verhaltensgestörtes Kind (am besten noch eins mit Diagnose) rauswirfst und das abhaut, könnte schon eine Richterin oder Richter auf die Idee kommen, dich verantwortlich zu machen. Normale Kinder sitzen auf ihrem Platz, für die stellt sich die Frage nicht und Aufsichtspflicht hat immer mit Einschätzung der zu Betreuenden zu tun.

  • Wir dürfen unsere Kinder nicht rauswerfen, aus o.g. Gründen.

    Tatsächlich zerstören sie dann gerne fremdes Eigentum (Toiletten, Türen...) oder verletzen sich selbst (Kopf gegen die Wand, Ritzen...).

    Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, dass man sie ignoriert.

    Aldous Huxley

  • Rauswerfen = Lehrer:in bringt das Kind mit den Aufgaben in eine andere Lerngruppe, dort sitzt es separiert. Anmerkung an die Klasse "Ich bin sofort wieder da."

    --> Aufsichtspflicht aller Schüler:innen gewahrt


    Rauswerfen = das Kind sitzt mit den Aufgaben bei offener Tür an einem Arbeitsplatz auf dem Flur im direkten Sichtfeld der Lehrkraft. Die Lehrkraft bleibt in Türnähe.

    --> Aufsichtspflicht gewahrt, Brandschutz evtl. nicht


    Rauswerfen = das Kind soll vor der Tür stehen und die gesamte Zeit die Klinke herunterdrücken

    --> hart an der Grenze und zusätzlich höchst unpädagogisch


    Rauswerfen = das Kind soll das Klassenzimmer verlassen und es wird sich nicht weiter gekümmert

    --> definitiv Verletzung der Aufsichtspflicht


    So haben wir das an der Uni im Schulrecht gelernt.

  • Und man sollte noch bemerken, es stören nicht nur "verhaltensgestörte" Kinder, wobei ich den Begriff sowieso nicht mag. Kurz gesagt, Horst kann ich bei offener Tür mit einer Aufgabe parken, vielleicht aber Lisa nicht, weil ich da gleich das Gefühl haben muss, dass sie Blödsinn mit dem Feuerlöscher macht, Wände beschmiert oder randalierend durch die Schule läuft. So viel gesunden Menschenverstand und Kenntnisse über seine Klasse sollte man doch haben, dass man genau einschätzen kann, wen man bei offener Tür auf dem Flur parken kann und wen nicht.

  • Wenn du ein verhaltensgestörtes Kind (am besten noch eins mit Diagnose) rauswirfst und das abhaut, könnte schon eine Richterin oder Richter auf die Idee kommen, dich verantwortlich zu machen.

    Quatsch. Ja, ich muss das beim Kind einschätzen. Wenn das aber ein Kind ist, was beispielsweise nie durch so ein Verhalten aufgefallen ist, sieht das eher nicht so aus. Das Kind hat sich an meine Anweisungen zu halten, wenn es einfach abhaut, erlischt hier auch meine Aufsichtspflicht.

    Rauswerfen aus dem Unterricht und gleichzeitig die Aufsichtspflicht nicht zu verletzen - das musst du mir mal erklären.

    Aufsichtspflicht bedeutet nicht, dass Kinder permanent im Blick der Lehrkraft sein müssen, sondern sie müssen sich beaufsichtigt fühlen. Wie oft ich die tatsächlich sehe, ist abhängig von Alter, Einschränkung etc.

    Rauswerfen = das Kind soll vor der Tür stehen und die gesamte Zeit die Klinke herunterdrücken

    --> hart an der Grenze und zusätzlich höchst unpädagogisch


    Unpädagogisch - ja, hart an der Grenze - nein.

  • Das ist m.W.n. eben genau anders.

    Ich gehe Paragraphen suchen.

    Das hängt grundsätzlich vom Alter des Kindes ab. Bei uns hieß es damals im Seminar: „Kinder bis zum Alter von 16 müssen beaufsichtigt werden. Ab 16 müssen sie sich nur noch beaufsichtigt fühlen. Dies ist so zu interpretieren, daß sie als Lehrkraft durchaus kurz den Raum verlassen dürfen, sie dürfen aber nicht sagen wie lange sie wegbleiben, damit die Kinder in jeder Sekunde damit rechnen müssen, daß sie zurückkommen.“

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