Gesamtschule oder Gymnasium

  • Liebe Community,

    Ich bin aktuell am Ende des Referendariats und werde mich bald auf Planstellen bewerben. Mich würden eure Erfahrungen bzgl. Gesamtschulen interessieren. Vor allem im Vergleich zum Gymnasium, da ich leider bisher fast nur Erfahrungen am Gymnasium gesammelt habe. In der Stadt, in die ich am liebsten ziehen würde, würde ich ganz evtl. eine Stelle an einer Gesamtschule bekommen. Ansonsten habe ich eine Stelle am Gymnasium in einer anderen Stadt im Blick, die ich auch OK finde. Letzterer habe ich eigtl auch schon mündlich zugesagt, da ich Bedenken habe, mich an einer Schulform verbeamten zu lassen, die ich kaum einschätzen kann. Deswegen an euch meine Frage: Wärt ihr generell in so einer Situation (gerade mit Bezug auf direkte Verbeamtung) offen für Gesamtschulen? Meine Sorge ist v.a. ob das classroom Management dort deutlich schwerer ist und generell die Herausforderung sehr heterogene Klassen zu haben. Vielleicht kann jemand mit Erfahrungen mit beiden Schulformen etwas dazu sagen? Es geht um eine IGS.

    Dankeschön und liebe Grüße.

  • die Fächer spielen dabei auch stark eine Rolle und sicher auch (für dich) Informationen zur jeweiligen Schule.
    (Sind deine Fächer in Diff-Kurse? Werden sie im Fächerverband unterrichtet und du unterrichtest auch fachfremd einige Fächer dazu? Ruf der Schule in der Stadt?)

  • Hi,

    als jemand, der am "gutbürgerlichen Gymnasium" ausgebildet wurde, an solchen einige Vertretungsstellen absolviert hat und schließlich seine Planstelle an einer quasi Brennpunktgesamtschule im Westen NRWs angetreten ist, kann ich hier mal ein paar Dinge berichten:

    - ganz ehrlich: Hätte es für mich Planstellen an Gymnasien gegeben, hätte ich mich auch dafür entschieden. War aber nicht so. Für mich stand zur Wahl entweder vollkommen entwurzelt im Schwarzwald an einem Gym anfangen, oder aber wohnortsnah an der Gesamtschule anfangen. Für (fast) das gleiche Geld.

    - Ja, die Schülerschaft ist heterogener als am Gym. Jedoch ist man das in unserem Kollegium gewohnt. Generell sind auch Gymnasien heutzutage absolut nicht mehr das, was sie noch vor 25 Jahren waren. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man sich an den Gymnasien dieser Entwicklung zu entziehen versucht und man dort nicht so konsequent mit erzieherischen und Ordnungsmaßnahmen ist, weil es man dort schlicht nicht gewohnt ist.

    - Die Kollegien an den Gymnasien waren weitaus versnobter und tendierten zum Einzelkämpfertum. Hattest du ein Problem mit einer Klasse, warst das erst einmal auf deinem Mist gewachsen, "denn bei mir laufen die total gut". Sehr nervige Einstellung. Material wurde kaum geteilt, jeder machte irgendwie sein Ding. Aber man ließ sich eben auch in Ruhe. An der Gesamtschule ist das etwas anders: Hier muss man miteinander arbeiten, einfach schon, damit die Schüler checken, dass sie die Kollegen nicht gegeneinander ausspielen können. Was mir hier nicht gefällt: Als vollausgebildeter Lehrer ist man fast schon in der Minderheit, weil Gesamtschulen wegen des Mangels gerne jeden einstellen, der freundlich schauen und geradeaus laufen kann, gleichzeitig aber zu allem eine wichtige Meinung bei fast genauso wenig Ahnung haben muss ("Ich als Mama kann das ja gaaaaanz anders beurteilen").

    - Fachlichkeit ist - außer in der Oberstufe - an der Gesamtschule eher sekundär. Es ist zudem normal, fachfremd eingesetzt zu werden (natürlich mit persönlichen Grenzen). Der Einblick in andere Fächer gefällt mir gut (Mathe, Informatik) und macht mir Spaß, andere Bereiche kommen massiv zu kurz (bei mir z. B. Latein). Naja, einen Tod muss man eben sterben. Wenn du aber Wert legst auf fachliches Arbeiten: Hab das im Hinterkopf, dass die Gesamtschule dafür evtl. nicht der geeignetste Platz ist

    - Beziehungsebene ist wichtig. Das fängt aber auch schon damit an, dass Beziehung eben Zeit braucht. Am Anfang brauchst du daher ein dickes Fell. Mir ist es auch schon passiert, dass unausstehliche Klassen nach Monaten irgendwann einfach angenehmer wurden, obwohl man selbst eigentlich nichts gemacht hat. Klassenlehrer sein gefällt mir sehr gut, weil ich meine Klasse mag. Deshalb habe ich viel Unterricht in meiner eigenen Klasse, es fühlt sich an wie im "Wohnzimmer" sitzen. Fremde Klassen sind gleichzeitig schwieriger.

    - Das System Gesamtschule lügt sich selbst in die Tasche: Es wird behauptet, dass die Kinder mit Förderschwerpunkt im Rahmen des "Gemeinsamen Lernens" eben nicht aus dem Klassenverband herausselektiert werden. Naja, werden sie schon, vor allem in den Fächern Mathe Deutsch Englisch. Da werden sie dann nämlich in Kleingruppen vom Sonderpädagogen unterrichtet, Eltern fallen in der Jgs. 9 aus allen Wolken, wenn ersichtlich wird, dass ihr Kind maximal einen Hauptschulabschluss schaffen wird. Da wird sich dann auf einmal gewünscht, dass die Kinder vorher schon sitzen bleiben können. Tja.


    Bereue ich es, an der Gesamtschule angeheuert zu haben? Nein! Vor allem nicht, weil ich den gleichen Sold wie am Gym erhalte. Nein, weil der Unterricht in der Sek I flott vorbereitet ist. Nein, weil man sich trotzdem in der Sek II engagieren kann.

    Würde ich mein eigenes Kind an eine Gesamtschule schicken? Hell, no. Dafür bin ich zu sehr Befürworter des klassischen drei- bzw. viergliedrigen Schulsystems.

  • FrozenYoghurt

    Ich habe da sehr ähnliche Erfahrungen gemacht, auch bezogen auf NRW. An der Gesamtschule ist das "Durchgreifen" für mich viel mehr zur Routine geworden. Es ist auch kein großes Problem, mal jemanden um Unterstützung zu bitten in schwierigen Situationen.

    Am Gymnasium sah ich ebenfalls mehr Einzelkämpfertum, wenn es um Disziplinprobleme ging. In anderen Bereichen wie Materialaustausch oder Unterrichtsvorbereitung sah ich jetzt keine nennenswerten Unterschiede. Da war man bei mir bisher immer großzügig und unkompliziert. Die Vielfalt im Kollegium empfinde ich an der Gesamtschule insg. als positiv. Es ist bodenständiger aus meiner Sicht.

    Insgesamt empfinde ich die Benotung an Gesamtschulen als problematisch, ebenfalls die Kurszuteilungen. Da Gesamtschulen einfach eine sehr diverse Schülerschaft haben, sind bei Schülern, die sich zumindest bemühen, die Noten bei einigen Kollegen nach meinem Empfinden etwas zu "großzügig". Der mittlere Schulabschluss in NRW erfordert häufig nur "Bemühen" und Anwesenheit. Der Abschluss wurde dadurch schon auch entwertet und die Notenvergabe ist je nach Kollege bei gleichen Leistungen z.T. sehr unterschiedlich.

    Die Arbeit könnte ich mir ohne Klassenleitung nicht mehr vorstellen. Ich finde es gut, dass man in seiner Klasse möglichst viel eingesetzt wird, ggf. auch fachfremd. Gerade bei den Auffälligen ist es wichtig, dass man sie kennt und einschätzen kann. Neue Kurse in der Mittelstufe zu erhalten, in Jahrgängen, in denen ich vorher nicht unterrichtet habe, empfinde ich als deutlich stressiger. An der Gesamtschule erwartet mich immer etwas Neues und ich bin froh, wenn ich Kurse möglichst lange behalten kann.

    Den Unterricht durch Sonderpädagogen haben wir an unserer Schule nicht. Sie sitzen bei uns mit im Klassenraum. Das klappt mal gut, mal überhaupt nicht. Ich habe nicht die Zeit, sie ausreichend zu fördern.

    Zur Unterrichtsvorbereitung: In der Sek 1 ist es mir kein einziges Mal passiert, dass ich nicht genug eingeplant habe. Am Gymnasium gibt's deutlich mehr ehrgeizige Schüler und Klassen - vielleicht hat sich das aber auch mittlerweile weiter verändert. Es ist ja schon mehrere Jahre her, als ich am Gymnasium unterrichtet habe.

    Die Sek 2 empfinde ich aber auch anders als am Gymnasium. Beim Sozialverhalten sehe ich keine großen Unterschiede. Ich sehe aber im Vergleich viel mehr Schüler, die überfordert sind und auch viel mehr, die aufgrund der schulischen Anforderungen psychische Probleme haben/bekommen. Der Anteil an Schülern, die sehr schlecht schreiben bis hin zur Unlesbarkeit, ist überraschend hoch.

    Ich bereue es auch nicht, an der Gesamtschule zu sein. Ich habe aber auch wirklich einige Zeit gebraucht, um mich in dem System zurecht zu finden. Das ging nicht von heute auf morgen.

  • k_19 Deine Ausführungen zur Benotung und die Probleme damit kann ich zu 100% unterschreiben. Man verliert auch auf Dauer ein wenig das Gefühl, was jetzt Mindeststandard, Regelstandard und wirklich gut ist, da mMn. "bemüht sein" schon ausreicht, um besser dazustehen als 60% der Schüler. Genau das fällt den Kindern dann aber auf die Füße, falls sie sich dazu entscheiden, in die SEK II zu gehen. Da sind die Standards ungleich höher, als es für die Gymnasiasten ist: Der Schritt hoch ist einfach zu viel, weil man vorher in der SEK I die ganzen Kinder mitgeschleppt hat, die so gerade einen Einfachen Schulabschluss durch Versetzung schaffen.

  • Das System Gesamtschule lügt sich selbst in die Tasche: Es wird behauptet, dass die Kinder mit Förderschwerpunkt im Rahmen des "Gemeinsamen Lernens" eben nicht aus dem Klassenverband herausselektiert werden. Naja, werden sie schon, vor allem in den Fächern Mathe Deutsch Englisch. Da werden sie dann nämlich in Kleingruppen vom Sonderpädagogen unterrichtet, Eltern fallen in der Jgs. 9 aus allen Wolken, wenn ersichtlich wird, dass ihr Kind maximal einen Hauptschulabschluss schaffen wird. Da wird sich dann auf einmal gewünscht, dass die Kinder vorher schon sitzen bleiben können. Tja.


    Also zumindest für NRW ist das nicht an jeder Schule, das ist dann an deiner Gesamtschule so gewesen. Bei uns wird in D M E nicht in Kleingruppen unterrichtet.

    Wenn die Eltern in Jg. 9 aus allen Wolken fallen, dann liegt das an fehlender vorheriger Beratung.

  • Auch am Gymnasium hat man regelmäßig interessante Elterngespräche zum Schuljahresende, weil die nicht-Versetzung absolut überraschend kommt, obwohl es nach dem Halbjahreszeugnis Fördergespräche gab, dann vor Ostern Warnungen verschickt wurden und das Ganze auf dem Elternsprechtag und noch 2-3x per E-Mail thematisiert wurde.

    Wer überrascht sein möchte, der ist halt überrascht.

    If you look for the light, you can often find it.
    But if you look for the dark that is all you will ever see.

  • Auch am Gymnasium hat man regelmäßig interessante Elterngespräche zum Schuljahresende, weil die nicht-Versetzung absolut überraschend kommt, obwohl es nach dem Halbjahreszeugnis Fördergespräche gab, dann vor Ostern Warnungen verschickt wurden und das Ganze auf dem Elternsprechtag und noch 2-3x per E-Mail thematisiert wurde.

    Wer überrascht sein möchte, der ist halt überrascht.

    Hinzu kommen (am Gym) beratungsresistente Eltern. Der Sohn oder ide Tochter muss ja unbedingt das Abi machen, auch wenn es ihm oder ihr besser tun würde, zur Realschule zu wechseln.

  • Hinzu kommen (am Gym) beratungsresistente Eltern. Der Sohn oder ide Tochter muss ja unbedingt das Abi machen, auch wenn es ihm oder ihr besser tun würde, zur Realschule zu wechseln.

    Der Fehler liegt bereits darin, dass Eltern bei Bildungsentscheidungen immer noch zu viele Kompetenzen zugesprochen werden, über die sie schlichtweg nicht verfügen. In einer idealen Welt müssten Lehrkräfte Eltern nicht beraten, sondern diesen lediglich ihre (fachlich fundierte) Entscheidung mitteilen, sodass letztere diese zur Kenntnis nehmen und sich danach richten können. Bedeutet: Wenn die Lehrkraft zum Ergebnis kommt, dass die Realschule die geeignete Schulform für ein Kind oder eine/n Jugendlichen ist, sollte dies Umsetzung finden - die Eltern können sich dann für den konkreten Schulstandort entscheiden.

    Aktuell gibt das Schulrecht das leider nicht her, aber da müssten wir (wieder) hin.

  • Also zumindest für NRW ist das nicht an jeder Schule, das ist dann an deiner Gesamtschule so gewesen. Bei uns wird in D M E nicht in Kleingruppen unterrichtet.

    Wenn die Eltern in Jg. 9 aus allen Wolken fallen, dann liegt das an fehlender vorheriger Beratung.

    Ich beschwere mich nicht, ich finde das sogar gut! Diese Kinder nehmen im Regelunterricht wenig bis gar nichts mit mangels kognitiver Möglichkeiten.

    Die unterschwellige Provokation im zweiten Abschnitt kannst du dir gerne sparen. Die Realität ist, dass Beratung noch so toll sein kann, wenn sie schlicht und ergreifend ignoriert bzw. nicht in Anspruch genommen wird: fehlende Wahrnehmung von Elternsprechtagsterminen, generelle Vogelstrauss-Taktik auf Elternseite. Du kannst noch so toll beraten, wenn die eine Seite auf stumm schaltet, ist es halt so.

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