Gegen alle Prinzipien

  • Nach mehreren Wochen Notbetreuung und bevorstehender Schulöffnung werden die Regeln bei uns immer stärker eingefordert und kontrolliert. Am Anfang durften die Kinder noch zusammen auf dem Pausenhof Spiele wie Fangen etc. spielen, mittlerweile nur noch Spiele mit Abstand und ohne irgendwelche Geräte, die von mehr als einer Person angefasst werden könnten (kein Ball, keine Springseil...). Im Klassenraum ist mittlerweile auch der Abstand oberstes Gebot. Anfangs haben wir noch gemeinsam gebastelt oder gespielt. Das ist nun schwierig bis unmöglich. Und wie tröste ich denn einen Erstklässler mit starkem "Mamaweh" auf 1,50 Meter, wie erkläre ich Buchstaben mit Mundschutz und wie helfe ich so sinnvoll, wenn jemand nicht weiterkommt. Keine Partner- oder Gruppenarbeiten, kein Singen, keine Bewegungsspiele. Das geht gegen sämtliche Prinzipien, die für mich guten Unterricht ausmachen. Aber ich muss fast schon sowas wie schimpfen, wenn die Kinder sich gegenseitig helfen wollen, wissbegierige Kinder von mir wegschicken, wenn sie Bilder im Vorlesebuch näher betrachten wollen und meinen "kontaminierten" Bleistift schön bei mir behalten, obwohl XY wie immer keinen hat und ohne gar nicht arbeiten kann. Mir wird schlecht, wenn ich daran denke, wie lange das noch so gehen soll und es macht mich total traurig. Gibt es Leidensgenossen, denen das auch auf die Stimmung geht?

  • Ja, absolut.

    Ich starte am Montag und frage mich wirklich, wie das werden wird.

    Meine Förderschüler sind auf handlungsorientierten Unterricht angewiesen und viele auf Körperkontakt als Kommunikationsmittel. Abstands- und Hygieneregeln verstehen sie kaum, wie soll ich sie also einfordern?

    Frontalunterricht geht bei uns einfach nicht. Die Kinder müssen etwas anfassen, um es zu verstehen. Sie brauchen Handführung, um den Stift richtig zu halfen und den Buchstaben korrekt zu schreiben. Und sie brauchen Spiel und Austausch und Trost und Sicherheit von uns Pädagogen. All das geht nicht mit 1,5 Metern Abstand.

    Wir dürfen nicht mal die Geburtstag nachfeiern, weil wir kein Essen teilen dürfen, auch Turnhalle, Bewegungsraum, Musikraum und Werkraum fallen flach.

    Das macht mich schon traurig.

  • Genauso ging es heute auch den Viertklässlern. Die waren irgendwie nach den 3 Stunden ganz schön fertig und irgendwie machten einige lange Gesichter und waren nicht besonders gut drauf. Das war nämlich nicht der Unterricht, auf den sie sich freuten und auf den sie gehofft hatten. Letztendlich muss jeder 3 Stunden mit seinen Materialien an seinem Platz verharren und kann höchstens mal aufs Klo. Verständnislose Gesichter, als ich sage, dass wir kein Geburtstagslied singen dürfen. Praktische musikalische Aktivitäten dürfen wir nicht machen, man darf keine Freiarbeitsmaterialien zur Beschäftigung nehmen - nichts.


    Ich finde, dass es in den Schulen übertrieben wird. Einer meiner Schüler hat geäußert: "In der Schule ist es am strengsten." Manche äußerten auch: "Hoffentlich wird das bald anders." Es halt noch so: Die Kleinen nehmen alle Maßnahmen ernst. Man vermittelt zusätzlich unbewusst den Schülern, dass alle potentiell hoch ansteckend sind. Bei uns gibt es im Landkreis alle paar Tage eine Neuinfektion. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass sich da etwas verbreitet.

    Dieses ganze Desinfizieren, was wir machen müssen, wird nicht mal beim Verkauf eingehalten. Auch da nimmt die Verkäuferin die Ware oder man tippt seine Geheimzahl an der Kasse ein.


    Durch diese ganze Maßnahmen, die den Anschein erwecken, wie die Schule ein hygienischer Hochsicherheitstrakt wäre, befürchte ich, dass dadurch einige Kinder psychisch längerfristig daran zu knappern haben. Hoffentlich gibt es da keine Traumatisierungen.


    Zu deiner Frage: Natürlich ist diese Art von Unterricht ätzend und das Gegenteil eines guten Unterrichts.


    Auf die Stimmung geht es mir persönlich nicht, ich mache mir eher Sorgen um die Kinder. Außerdem sehe ich die Verhältnismäßigkeit nicht, was die Summe der Maßnahmen betrifft.

  • Da hast du allerdings recht. Gestern auf dem Spielplatz war die Hölle los, da ging es bunt durcheinander. Da fassen die Kinder auch die Schaukel an, auf der eben noch jemand saß und teilen sich Schaufel und Eimer. Das kann und sollte man auch nicht verhindern.

    Die ganzen Regeln in der Schule sind dazu da, Eltern in vermeintlicher Sicherheit zu wiegen, dabei kann es die nicht geben. Es bringt nichts, in der Schule den Sheriff zu spielen, wenn die Kinder schon am Nachmittag zusammen Eis essen und Fußball spielen.


    Ich werde jedenfalls mit Augenmaß vorgehen und die Kinder nicht mit einer Schwimmnudel auf Abstand halten. Das geht bei uns auch gar nicht und schadet den Kindern mehr als es ihnen nutzt.

    • Offizieller Beitrag

    Man kann in der Schule höchstens mit gutem Beispiel vorangehen. Nur weil Eltern sich an nichts halten oder in Berlin irgendwelche Spinner demonstrieren, heißt das ja nicht, dass die Regeln unsinnig sind.


    Sicherlich mit Augenmaß - aber man findet bei aller Sicherheit immer Möglichkeiten. Beim Geburtstagslied hätte ich mir zum Beispiel mit den Kindern einen Spaß daraus gemacht, für das Geburtstagskind lautlos ein Geburtstagslied zu singen. Das Geburtstagskind kann dann (mit Abstand ;) ) vorne stehen und den anderen ins Gesicht gucken. Es sieht die Mundbewegungen ... und wird sich mit Sicherheit auch darüber freuen.


    kl. gr. frosch

  • Bei allem verständnis für Schutz, Prävention und Sicherheit: Es gibt nur eine Sache, vor der ich wirklich angst habe. Ich habe Angst, dass sich der Gedanke "mein Mitmensch ist kontaminiert und potentiell gefährlich" dauerhaft in die Köpfe einprägt. Ich möchte nicht, dass Menschen angeekelt auf Seite springen, wenn sich jemand nähert. Ich möchte andere Menschen nicht als Gefahr sehen. Ich möchte nicht als Gefahr gesehen werden. Wie sieht ein Umgang miteinander aus, wenn man in dem anderen permanent eine Gefahr für Leib und Leben sieht? Ja, Menschen können eine ansteckende Krankheit haben. Aber ob eine Gesellschaft, in der jeder zum Selbstschutz den anderen als Gefahr abwehrt, so erstrebenswert ist?

    Der Eingangspost drückt das sehr schön in Bildern aus: Was ist das für eine Gesellschaft, in der man ein weinendes Kind "wegstößt" weil man es als Gefahr sieht? Keine, in der ich dauerhaft leben möchte.

  • Dass man in einigen Situationen eher nach Augenmaß und Bauchgefühl entscheiden sollte, unterschreibe ich sofort. Nur leider gab es bei uns schon Meldungen ans Ordnungsamt (natürlich anonym...), weil einige Regeln nicht perfekt eingehalten wurden, da wir man dann irgendwann selber übervorsichtig.

  • hmm ich find das schlimm, dass die Regel bei den Kindern so angewendet werden bzw. und dass es dann noch Menschen gibt, die das anzeigen.


    Bei uns an der Schule (ich glaub sogar im Kanton) gelten die Abstandsregeln unter den Kinder nicht. Als Lehrperon soll man so gut es geht Distanz wahren, aber bei den Kleinen ist das nicht zwingend. Essen dürfen sie nicht teilen, sehe ich auch ein. Miteinander spielen dürfen sie, wie sie wollen. Nur draussen gibt es kein Spielmaterial, da war da beide Klassen gemischt sind. Hände waschen tun wir jetzt öfters. Ja Turnen ist auch nicht erlaubt momentan, aber ich darf im Klassenzimmer Bewegungsspiele oder Yoga machen.


    Lehrpersonen bzw. generell Erwachsene untereinaner sollen den 2 Meter einhalten. Eltern sollen, wenn möglich das Schulhaus nicht betreten.

  • Essen dürfen sie nicht teilen und kein Sport aber die Abstandsregel wird nicht eingehalten? Das ist doch nicht sehr stringent.


    Ich muss sagen, dass sich die meisten (noch?) an die Regeln halten. Für guten Unterricht ist es schlecht. Aber traumatisiert sind unsere Viertklässler nicht. Die Klassenlehrerinnen machen das echt gut. Die Kinder verstehen und nehmen es locker. Natürlich halten sich auch viele unsere Kinder nachmittags nicht an die Regeln. Aber es gibt auch welche, die sich auch nachmittags dran halten.


    Und ehrlich gesagt ich hätte auch Probleme damit, wenn nachher wirklich was passiert und ich mir Gedanken machen muss, ob wir nicht genug aufgepasst haben. Inzwischen gibt es ja auch Berichte von Todesfällen bei Kindern, die eventuell mit Covid19 zusammenhängen. Oder auch einfach wenn ein Kind einen Angehörigen ansteckt.


    Aber ich denke auch, dass es in Klasse 1/2 nicht so einfach möglich sein wird.

  • hmm ich find das schlimm, dass die Regel bei den Kindern so angewendet werden bzw. und dass es dann noch Menschen gibt, die das anzeigen.

    Gibt doch auch eine Kollegin hier im Forum, die stolz darauf ist, täglich beim Gesundheitsamt Verstöße zu melden.

  • Tja nun... Das ist das Ergebnis der wochenlangen Hysterie um Kinder als gefährliche Virenschleudern und Schulen als Ort der abgründigen Corona-Hölle. Schön, dass hier jetzt auch die ersten KuK die Verhältnismässigkeit infrage stellen. Ich könnte kotzen wenn ich sowas lese und bin froh, dass es bei FrauZipp in Zürich besser läuft. Ich hab noch nichts gehört, wie hier bei uns der erste Schultag heute gelaufen ist. Gesehen habe ich allerdings die Kids gegenüber an der Primarschule die zumindest draussen unbehelligt über die Wiese hüpfen durften.

  • Ehrlich gesagt, schaffe ich es selbst kaum. Habe neulich meinem Problemschüler aus Versehen durch die Haare gewuschelt. :rotwerd: Notbetreuung von 7.30-13.00 Uhr ohne spielen, singen usw. (ab nächste Woche 1 Person so lange ohne Abwechslung), das wird was werden. Im Pausenhof dürfen sie ja auch nicht zusammen spielen, Turnhalle ist auch tabu. Obwohl ich bisher draußen einen Fußball erlaubt habe. Zum Glück hat mich niemand angezeigt.

  • Genau diese Gedanken machen mir zur Zeit auch die meisten Bauchschmerzen. Ich bin aber auch nur in Klasse 1 und 2 und da ist konsequent Abstand halten einfach nicht realistisch. Ich werde es versuchen, aber wenn ich das wirklich so umsetzen wollte, müsste ich die Kinder ständig massiv disziplinieren. Aber gerade in der jetzigen Situation, wo die Kinder eh schon verunsichert sind, weil plötzlich alles anders ist, als gewohnt, möchte ich die Kinder nicht auch noch ständig zurechtweisen und "anschnauzen" müssen, nur weil sie sich verhalten wie Kinder...

    Da finde ich die schweizer Variante schlicht ehrlicher. Ich empfinde das ganz auch als Augenwischerei... wenn die Kleinen zum jetzigenZeitpunkt in die Schule geschickt werden müssen, soll man wenigstens so ehrlich sein zu sagen: nein, wir können nicht wirklich für Sicherheit sorgen, nein, wir können niemanden 100%ig schützen, ja es ist ein erhöhtes Risiko. Und das sollt man dann bitte schön auch realistisch mit einkalkulieren.

    Und ich finde es auch völlig absurd, wenn ich auf der einen Seite sehe, mit was für einem enormen Kraftakt die Schulen versuchen diese unrealistischen Vorgaben trotz allem irgendwie umzuserzen, während außerhalb des Mikrokosmos Schule eine Lockerung die nächste jagt und die Leute "draußen" immer unvorsichtiger werden.

    "Die Wahrheit ist ein Zitronenbaiser!" Freitag O'Leary

  • Tja nun... Das ist das Ergebnis der wochenlangen Hysterie um Kinder als gefährliche Virenschleudern und Schulen als Ort der abgründigen Corona-Hölle. Schön, dass hier jetzt auch die ersten KuK die Verhältnismässigkeit infrage stellen.

    Die Regeln kommen ja nicht von irgendwelchen Lehrern, sondern Menschen, die davon deutlich mehr Ahnung als du und ich. Ich glaube nicht, dass irgendwer von uns realistisch einschätzen kann wie groß die Risiken sind und wie sinnvoll sie sind. Ich möchte dafür auch nicht die Verantwortung übernhmen.


    Letztlich ist die Frage, wie wir mit den Einschränkungen pädagogisch sinnvoll umgehen können.

  • Gibt doch auch eine Kollegin hier im Forum, die stolz darauf ist, täglich beim Gesundheitsamt Verstöße zu melden.

    Wie kommst du denn darauf? :gruebel:


    Ich finde sehr lieb, was kleiner gruener frosch schreibt. Dass man das Beste draus macht und Kinder nicht "wegstößt", sondern vermittelt, dass wir im selben Boot (aka Hochsicherheitstrakt:hammer:) sitzen.


    Dass das eine Grenze in der Förderschule Geistige Entwicklung hat ist klar, aber die Zahl der Schüler ist verhältnismäßig gering und sie waren eh wochenlang in der Notbetreuung.


    Und wenn das Ordnungsamt bei uns anklingeln würde, weil Eltern sich beschweren, dass wir ihren Kindern helfen oder weil sich zwei zu nahe gekommen sind, dann würde ich mich nur fragen, warum sie ihre Bälger nicht zu Hause behalten. Das ist echt so bekloppt, dass man das getrost ignorieren kann, das Ordnungsamt wird vermutlich auch keinen Wachschutz mit Schwimmnudeln schicken.

Werbung